Der Intensivkurs

 

Unser junger Pastor war gerade mal 33 Jahre alt, als er mit seiner Familie auf die Insel kam. Er war maßlos enttäuscht. Er hatte sich vorgestellt, hier mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Stattdessen bestand unsere Gemeinde hauptsächlich aus älteren Menschen, die hier überwintern wollten.

Seine Schüler aus dem Religionsunterricht und deren Eltern nahmen am Gemeindeleben nicht teil.

Vor seiner Abreise hatte der Pastor einen Intensivkurs in Spanisch absolviert. Er fühlte sich absolut sicher. Darum ging er auch allein zum Ausländeramt, um die Sache mit seinen Papieren zu regeln.

Als man ihn nicht besonders höflich behandelte, sagte er empört auf Spanisch: „Ich bin der deutsche Pastor. – ‚Soy el pastor aleman.‘“

Die Umstehenden konnten sich ihr Lachen nicht verkneifen.

‚Pastor aleman‘ heißt in Spanien nämlich der Schäferhund.

 

Gisela Seeger Ays

 

 

Chips

 

Gregor ging in die kleine Kneipe gegenüber. Gerade wollte er sich auf einen Hocker schwingen und ein kühles Bier bestellen, da bemerkte er den Fremden an einem der Tische. Gregor fiel sofort seine verkrampfte Haltung auf. Steif und hölzern saß er da, als hätte er Angst, vom Stuhl zu fallen.- Jetzt winkte der Mann. Gregor war nicht ungefällig und ging hinüber zu ihm. Der Fremde zeigte auf einen Stuhl an seinem Tisch. „Bitte, setzen Sie sich. Was darf ich Ihnen bestellen - Kaffee oder Bier?“

„Bier,“ sagte Gregor.

Aktualisiert ( Donnerstag, den 02. Juni 2011 um 12:50 Uhr )

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Die Fahrt nach Helgoland

 

Ende der sechziger Jahre kam Georgs Binnenschiffsfirma so richtig in Schwung. Die Schiffe fuhren hauptsächlich nach Berlin, aber auch zum Mittellandkanal und zum Rhein.

Neben Zeitungsdruckpapier in Rollen und Lebensmittel für die Einfuhr- und Vorratsstelle beförderten die Schiffe vor allem  Kupfer nach Berlin und zurück. In Berlin wurde das Kupfer - wie es hieß - veredelt. In Wahrheit bestand die ganze Veredelung nur darin, die Kupferplatten oder Zigarren einmal durchzusägen. Dafür gab es dann Berlinhilfe. Die war so reichlich bemessen, dass alle Beteiligten gut davon leben konnten.

Eines Tages kam der Spediteur, der das großartige Geschäft angeleiert hatte, mit einem Anliegen zu Georg.

Wichtig erklärte er: “Ich muss meiner Kundschaft mal wieder etwas bieten. Die Barkassentour auf der Unterelbe vor zwei Jahren fand ja allgemein Anklang. Aber dieses Mal sollte unser Ausflug die Fahrt noch übertreffen. Organisieren Sie das. Ich verlasse mich auf Sie.”

Er erwähnte noch, dass er sich nicht lumpen lassen würde und ging.

Georg beriet sich mit Julia. Sie waren sich sofort einig. Da kam nur Helgoland in Frage.

Sie kannten die kleine Insel in der Nordsee von ihren Urlaubsreisen. Vor allem liebten sie dort die ruhigen Tage über Sylvester, wenn die großen Bäderschiffe in den Heimathäfen ihren Winterschlaf hielten. Dann fuhr nämlich nur noch Cassen Eils mit seiner Atlantis - und direkt in den Hafen.

Den rief Georg jetzt an und fragte, ob man sein Schiff auch chartern könnte. Cassen Eils brummelte hocherfreut sein ‚Ja‘. Denn jetzt im Herbst war sein Schiff nur noch selten ausge- bucht. Er machte einen guten Preis, so dass sie schnell handelseinig wurden.

Die Vorbereitungen nahmen viel Zeit in Anspruch. Doch sie schafften natürlich alles bis zu dem wichtigen Tag.

 

Am Morgen startete ein Bus von Köln und einer von Hamburg Richtung Cuxhaven. Mit Bombenstimmung gingen dort alle an Bord.

Doch Kapitän Eils winkte Georg zu sich und zog ihn in seine Kammer. “Sieht draußen schlecht aus - Windstärke 6 in Böen 7 und das aus Südwest,” sagte er düster. “Bin nicht sicher, ob wir auslaufen können.”

Georg fragte besorgt: “Wegen der Atlantis?”

Cassen Eils war beleidigt: “Unsinn, die kann auch einen Orkan vertragen. Aber die Leute?”

Georg holte den Spediteur. Das wollte er nicht allein entscheiden. Der regte sich sofort auf. “Wie denken Sie sich das? Soll ich die Leute vielleicht so wieder nach Hause schicken? Oder trauen Sie sich nicht?”

Der kleine, pummelige Kapitän wurde puterrot im Gesicht. “Es geht mir nur um die Passagiere. - Gut! - Legen wir ab! - Aber Sie tragen die Verantwortung.”

Doch man soll ja nichts überstürzen. Sie beschlossen also, das kalte Buffet vor der Abfahrt zu eröffnen. Die Gäste hatten doch ein Recht darauf, die delikaten Speisen in Ruhe zu genießen.

Die Kapelle baute ihre Instrumente auf und legte los. Alle waren überzeugt, diese Fahrt würde ein unvergessliches Erlebnis werden.  - Und damit sollten sie auch recht behalten.

Nach dem Essen sammelte die Crew das Geschirr ein. Bier und Sekt wurde nur noch in Flaschen ausgegeben.

 

Das Schiff legte ab und steuerte aus der Elbmündung in die offene See. Hier erwischte sie das raue Wetter mit Macht. Die Atlantis stampfte schwerfällig gegenan und steckte ihre Nase tief in das aufgewühlte Wasser. Dazu fegte der Wind von Südwest heran und traf die Atlantis hart von backbord.

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Tot und begraben?

 

Ich wohnte noch nicht lange in dieser Gegend. Doch die gemütliche Kneipe an der Ecke hatte ich schon am ersten Tag entdeckt. Dort hockte ich oft nach Feierabend, trank mein Bier und aß auch manchmal eine Kleinigkeit.

Bald fiel mir ein hagerer Mann auf, der immer allein an seinem Tisch saß und in sein Glas starrte. Er unterhielt sich nie. Wenn einer der Gäste ihm ein Bier ausgab, verzog er keine Miene, sondern nickte nur kurz in die Richtung des Spenders.

Eines Abends verließ er ziemlich früh das Lokal. Mir fielen seine schlurfenden Schritte auf und der unnatürlich vorgestreckte Kopf.

Der Wirt kam zu mir, polierte die Tischplatte und sagte eifrig: „Das ist Kurt. Er lebt von der Sozialhilfe. Der hat auch schon bessere Zeiten gesehen.“ Er wischte ein zweites Mal über das Holz und verzog sich wieder hinter seinen Tresen.

Dieser Kurt interessierte mich. Ich vermutete sofort eine ungewöhnliche Story. So etwas aufzuspüren bedeutete für mich so viel, wie für andere der Tanz um das goldene Kalb.

Am nächsten Abend setzte ich mich in seine Nähe. Ich tat, als bemerkte ich seine abweisende Haltung nicht. „Ich bin neu hier. Es war nicht leicht, wieder einen Job zu kriegen. Ich fahre jetzt Zeitungen aus. Früher schrieb ich selbst Artikel. Doch heute gehöre ich zum alten Eisen. Meine Arbeit macht längst ein anderer.“

Ich konnte nicht erkennen, ob er überhaupt zuhörte. Aber ich gab nicht auf. Jeden Abend setzte ich mich zu ihm und erzählte ihm von meinem abenteuerlichen Leben. Doch Kurt saß wie immer stumm auf seinem Stuhl und starrte in sein Bierglas. — So vergingen mehrere Wochen.

Ich schreckte richtig auf, als er plötzlich seinen Mund öffnete und langsam sagte: „Gegen dein Leben war meines richtig langweilig - bis zu jenem schrecklichen Abend. Die Geschichte verfolgt mich noch immer - bis in den Schlaf."

Er schwieg wieder. Ich drängte ihn nicht.

Endlich sprach er weiter: „Wir waren eine ganz normale Familie. Ich besaß einen kleinen Eisenwarenladen. Mit unseren zwei Kindern gab es nur die üblichen Probleme. An den Wochenenden ging ich zu Rudis Kneipe - Fußball gucken und Skat spielen. Dann traf sich meine Frau mit ihren Freundinnen. So lief das seit Jahren." - Er stockte, brach seine Erzählung ab, trank schnell sein Bier aus und ging. - Wieder vergingen Tage, an denen er schwieg und ich redete.

Überraschend erklärte er eines Abends aufgeregt: „Ich denke immer und immer wieder darüber nach. Vielleicht hilft es mir, wenn ich dir alles erzähle. Sollte ich deswegen Ärger kriegen, behaupte ich einfach, ich hätte mir alles ausgedacht."

Kurt nahm noch einen kräftigen Schluck, bevor er anfing: „Es war so ein Abend, an dem man keinen Hund vor die Tür jagt. Außer Alfred und mir waren keine Gäste in Rudis Kneipe. Der Wirt maulte, er wollte keinen Skat spielen. Und uns gefiel das TV-Programm nicht.

Da kam ein Fremder ins Lokal und schüttelte den Regen von seinen Klamotten. Er sah abgerissen aus und sprach ziemlich gewöhnlich. Aber Skat spielen konnte er.

Zwischen zwei Spielen schrie er, wie uns schien ohne Grund: „Dem Halunken dreh' ich den Hals um.“

Er fuchtelte mit den Armen und ließ sich nur mit einem doppelten Rum beruhigen.

Doch noch immer verriet seine Stimme die kalte Wut. „Da treffe ich doch neulich diesen Zombie. Der versprach mir Arbeit - natürlich gegen ‚cash‘. Vermittlungsprovision nannte er das. Wir verabredeten uns in der Stadt. Aber diese Missgeburt ließ sich nicht blicken. Vor Wut platzt mir bald der Schädel. Ich sitze in einer fremden Stadt - ohne Arbeit. Und dieser Mistkerl lacht bestimmt über so viel Dummheit.“

Der Fremde ließ die Arme sinken. Für den Augenblick hatte er wohl genug Dampf abgelassen. Alfred mischte die Karten. Mein Blatt konnte sich sehen lassen. Es wurde auch Zeit. Denn bis jetzt gab es nur einen Gewinner - diesen Schreihals. Das allein verhagelte uns schon die Laune.

Je später es wurde, um so lauter und unangenehmer benahm sich der Fremde. Er verlangte sogar von uns, dass wir ihm helfen und ein Nachtquartier besorgen sollten.

Doch das Tollste kommt noch. Ganz zufällig bemerkte ich den Punkt im Rautenmuster auf der Rückseite meines Kreuzbuben. Ich blickte auf Alfreds Blatt. Er besaß eine Karte mit zwei Punkten. Pikbube? - Voller Empörung sprang ich auf und knallte meine Karten auf den Tisch. „Du Betrüger! Du hast die Karten gezinkt!“

Der Fremde grinste gemein. „Das Blatt stammt aus dieser Kneipe. Also seid ihr die Betrüger.“

Jetzt griff Alfred ihn am Kragen. „Wer hat hier immer gewonnen? Das ist doch Beweis genug.“

Der Fremde schlug sofort zu. Da hielt mich nichts mehr. Ich wollte auch mitmischen. Stühle fielen um. Wir kämpften verbissen. Doch Rudi — ein Bulle von Kerl — ging dazwischen. Mit wenigen Stößen trieb er uns auseinander. Der Fremde drehte sich zu seinem neuen Gegner um. Die Klinge seines Messers sprang Rudi entgegen. Dem blieb keine Wahl. Er schlug richtig zu. Der Fremde stolperte, schlug mit dem Kopf auf die Kante des Tresens und fiel zu Boden. Ich trat ihm noch gegen die Rippen. Irgendwie musste ich meine Wut loswerden.“

Kurt atmete schwer, als erlebte er das alles noch einmal. „Der Kerl bewegte sich nicht. Er machte keine Anstalten aufzustehen. Aus seinem Mund lief ein roter Faden.

Wir untersuchten ihn und sahen uns erschrocken an. Der Mann war tot.

Rudi schloss das Lokal ab und stellte eine Flasche Rum auf den Tisch. Wir fühlten uns, als hatte man uns das Gehirn geklaut. Immer wieder sahen wir hinüber zu dem Mann am Boden. Erst mit ein paar Gläsern von dem scharfen Zeug im Leib gelang es uns, die missliche Lage zu begreifen. Wie konnte so etwas bloß passieren? Würde die Polizei uns die Geschichte glauben? Vor unseren Augen erschienen Bilder vom Knast und dem Rundgang im Hof. Nur das nicht!

Endlich sagte Rudi: „Es gibt eine Lösung. Wir müssen den Kerl verschwinden lassen. Den vermisst hier sowieso niemand.“

Wir berieten nun, wo man eine Leiche am besten loswerden kann. Zum Fluss war es zu weit, ebenso bis zu einer Landstraße, um die Leiche aus dem Auto zu werfen. Der Friedhof wurde nachts verschlossen. Sonst hätten wir sie da vergraben können. - Die rettende Idee kam natürlich von Rudi. „An der Ecke steht doch der Container für Gartenabfälle. Die Müllmänner sind nicht besonders helle und merken vielleicht gar nicht, was sie transportieren.“

Rudis Vorschlag gefiel uns. Wir griffen dem Toten also unter die Arme und schleppten ihn die Straße entlang. Bestimmt sah es so aus, als wäre der Kerl vollkommen betrunken. Ihn dann in den Container zu kippen, war für uns nur noch ein Kinderspiel.

Wir fühlten uns nicht wohl in unserer Haut. Am nächsten Abend trafen wir uns wieder bei Rudi - und von da an jeden Tag. Wir studierten alle Zeitungen, die wir auftreiben konnten. Der Mann im Container wurde nie erwähnt. Ich vernachlässigte meinen Laden und meine Familie. Immer häufiger saß ich schon am Vormittag bei Rudi. Meine Frau ließ sich scheiden.

Alfred starb ganz plötzlich an einem Schlaganfall. Und Rudi? Eines Tages machten Rocker in seiner Kneipe Randale. Er konnte einem Messer nicht rechtzeitig ausweichen.“

Kurt seufzte. „Die beiden haben es hinter sich. - Und mir bleibt nur die Hoffnung, dass der Mann gar nicht tot war. Vielleicht konnte er aus dem Container herauskrabbeln? Schließlich stand doch nie etwas in der Zeitung.“

 

 

 

 

 

Aufbruch ins 3.Jahrtausend

 

Gregor, dieser junge, hungrige Typ, passte genau in unsere Zeit. Er war überzeugter Single und gab nichts auf stressige Feten. Er sah nett aus, groß und schlank. Seine dunklen Haare ließ er regelmäßig vom Friseur auf praktische fünf Millimeter stutzen. Manchmal wirkte er auf andere durch sein abweisendes Gehabe direkt unfreundlich oder arrogant. Doch im Grunde war er ein friedlicher Mensch, wenn man ihn in Ruhe ließ.
Seinen dreißig Stunden Job erledigte er in einem Büro an vier Tagen in der Woche mit viel Pflichtgefühl. Wie viel Zeit blieb da einem jungen Mann für Sport und Fun in einer starken Clique. Doch nicht für Gregor! Der lebte völlig neben der Welt. Selbst wenn ihn ein Mädchen anbaggern wollte, ging das meistens weit an ihm vorbei. Jedenfalls wenn die Sache zu einer längeren Beziehung auszuarten drohte.
Gregor hatte nämlich nur einen echten Freund - seinen Computer. Zu seinem absoluten Spitzenmodell gehörten natürlich Scanner, CD-Brenner und ein Zugang zum Internet. Längst besaß das Gerät für ihn keine Geheimnisse mehr. Er kurvte stundenlang über die Datenautobahnen und konstruierte per Mausklick irre virtuelle Bilder. Er glaubte wirklich, damit besäße er schon jetzt den Schlüssel zur Zukunft.
 
Die Geschichte passierte vor ein paar Jahren. Es fehlten nur noch wenige Wochen bis zum Jahreswechsel, der Schwelle in das 3.Jahrtausend. Gregor überlegte schon lange, wie er dieses aufregende Ereignis angemessen feiern könnte. Er dachte an ein irres Event, etwas ganz Ausgefallenes. Aber so viel er sich auch umhörte, keine angebotene Feier versprach den richtigen Kick.
Eines abends surfte Gregor wieder einmal gelangweilt im Internet. Er studierte, was der Markt an Wissenswertem zu bieten hatte. Da entdeckte er plötzlich eine faszinierende Website. Er stutzte und starrte verblüfft auf das verwirrende Bild. Wie ein Magnet hielt das auffallende Logo Gregors Augen fest. Vor einem samtblauen Hintergrund leuchtete eine goldene Sonne. Ihre unzähligen Strahlenarme züngelten nach allen Seiten wie hungrige Schlangen.
Darunter stand:
‘Verpasse nicht den Aufbruch ins 3. Jahrtausend! -
Klinke dich bei uns ein! –
Warte auf die nächste Botschaft.‘
Was mochte das bedeuten? War dies die Einladung zu einer besonders ausgefallenen Sylvesterfeier? Genau so etwas hatte er doch die ganze Zeit gesucht? Bloß, wo sollte die Fete stattfinden? Nach irgendwelchen Hinweisen suchte er aber vergebens.
Er lehnte sich zurück und atmete tief durch. Die Zeit bis zum neuen Jahrtausend lief viel zu schnell davon. Da er bisher noch nicht wusste, wo und wie er diese wichtige Nacht verbringen sollte, hatte er schon beschlossen, den Jahreswechsel wie so viele Nächte im Jahr vor seinem Computer zu verbringen. Vielleicht konnte er mit anderen Freaks seinen Frust rauslassen. Doch diese seltsame Botschaft katapultierte ihn aus seiner engen Computerwelt heraus. Warum sollte er den Trip ins nächste Jahrtausend nicht so erleben wie die Botschaft es versprach. Er wollte sich bei den Leuten einklinken.
Als er abends im Bett lag, konnte er lange nicht einschlafen. Diese Botschaft von der goldenen Sonne berührte ihn ganz eigenartig. Die Sonne? Sie hatte in seinem Leben schon lange keine Rolle mehr gespielt. Er beachtete sie gar nicht. Entweder saß er bei gedämpftem Licht im Büro und entlockte dort dem Computer Zahlenkolonnen. Oder er vergnügte sich zu Hause mit seinem PC – oft bis spät in die Nacht. Da störte das Tageslicht doch nur.
Dabei war die Sonne für sie alle unentbehrlich. Ohne ihre Kraft und Wärme gibt es kein Leben auf der Erde.
Und beim Einschlafen dachte er in einem lichten Moment, dass die virtuelle Welt niemals die Realität ersetzen könnte.
 
Am nächsten Morgen hielt es ihn nicht im Bett. Er stand früher auf als sonst. Er tappte noch im Nachtanzug ans Fenster und sah hinaus. Über den Häusern hinter der dunklen Wiese färbte sich der Himmel gelb. Es dauerte nicht lange, und die Sonne stieg hoch über die Dächer. Eigentlich sah er zuerst nur das gleißende Licht. Es verwandelte den Himmel in eine leuchtende hellblaue Kuppel und tauchte alle Dinge auf der Erde in bunte Farben.
So bewusst hatte Gregor den Sonnenaufgang noch nie gesehen. Es grenzte an ein Wunder, dass ausgerechnet dieser Stern in der Lage war, das Leben auf der Erde zu erhalten. Er glaubte, er könnte jetzt den Sinn der Botschaft der Sonnenleute erst richtig verstehen.
Er ging schnell ins Bad. Er musste ja ins Büro. Doch als er wieder zu Hause war, hämmerte er per e-mail anderen Freaks diese Botschaft in die PCs. Einige waren schon über das Sonnenlogo gestolpert. Andere musste er erst schlau machen. Die meisten lachten nur über den Blödsinn. Da wollte sich doch bloß jemand einen Spaß erlauben. Außerdem hätten sie Sylvester schon was vor. Doch Gregor ließ sich nicht beirren. Er war total angefressen von dieser Botschaft und suchte weiter nach Gleichgesinnten. Er surfte jede freie Minute durch die Computerlandschaft. Er klickte sich auch immer wieder bei dieser Website ein, um mehr zu erfahren.
Doch da tat sich absolut nichts. Immer erschien der alte Text. Allmählich glaubte Gregor auch, das Ganze wäre nur eine fiese Anmache. -
Trotzdem gab er nicht auf. Seine Ausdauer wurde eines Tages tatsächlich belohnt. Vor Aufregung kriegte er die Worte unter dem Sonnenlogo zuerst gar nicht auf die Reihe.
‚Halte dich bereit!
Erlebe mit uns den Sonnenaufgang
am 1.Tag des 3. Jahrtausends.
Staune und begreife!‘
Daraufhin schickte er e-mails an alle Freaks, die er beim Chatten aufgetan hatte. Bei einigen stieß er auf Interesse. Viele hielten diese Botschaft für eine Einladung zu einer grandiosen Sylvesterparty. Ein paar hielten Gregor glattweg für verrückt.
Gregor selbst flippte total aus. Er konnte an nichts anderes denken. Er vernachlässigte seine Arbeit. Ja, er meldete sich sogar einige Tage krank. Essen und Schlafen wurden zur Nebensache. Er wartete ungeduldig auf die nächste Nachricht. Würde er dann endlich erfahren, wer diese Leute waren und wo er sie treffen konnte?
 
Die neue Botschaft mit dem Sonnenlogo wurde eine Woche später ins Internet gestellt. Gregor war begeistert. Endlich ergab sich ein Sinn.
‚Erlebe den Sonnenaufgang mit dem Meister am 1.Tag des neuen Jahrtausends!
Teile uns deine Adresse mit.‘
Darunter stand der Name 'Tor zur Sonne’ und ein Postfach in Berlin.
Gregor folgte dem Aufruf sofort und schrieb an die angegebene Adresse. Er schickte den Brief weg und fieberte der Antwort entgegen. Es schien ihm, als hätten die Tage plötzlich doppelt so viele Stunden. So langsam trödelte die Zeit.
Knapp eine Woche später verschwand die Botschaft und das Sonnenlogo für immer aus dem Internet. So oft Gregor auch danach suchte, er fand es nicht mehr. So als wäre diese Sonne plötzlich untergegangen. Aber warum?
Kurz vor Weihnachten erhielt Gregor einen Brief mit der Post. Er drehte ihn um und entdeckte auf der Rückseite das bekannte Logo als Absender. Mit zitternden Fingern öffnete er den Umschlag und zog ein Computer bedrucktes Blatt heraus.
‚Wir brechen auf ins 3. Jahrtausend! Viele unserer Anhänger auf der ganzen Erde
werden im Osten - jeder zu seiner Zeit - das Tor zur Sonne erkennen.
Mache dich auf den Weg! Dein Ziel liegt in Cornwall in England. Südlich von Falmouth und nördlich von Lizard steht ein verfallenes Gehöft namens Cadgwith. Dort finde dich am letzten Abend dieses verrinnenden Jahres ein. Die Gebühr für dieses Seminar beträgt 4.000 Mark. Miete dich ein paar Tage vorher in der Nähe ein. Wir erwarten dich! Bringe diesen Brief als Ausweis mit!
Der Meister wird selbst anwesend sein, um mit uns den ersten Sonnenstrahl im neuen Jahrtausend zu feiern, der  durch das Tor zur Sonne dringt. Du bist auserwählt!‘
Ein seltsames Kribbeln lief durch seinen Körper. Diese Leute waren auf dem richtigen Weg. Ohne Sonne gibt es kein Leben! Man sollte dafür beten, dass sie noch viele Jahrtausende der Erde Wärme spenden möge.
Doch die anfängliche Begeisterung verflog schnell. Gregor starrte verzweifelt auf das Papier. Die Leute vom ‘Tor zur Sonne‘ konnte er getrost vergessen. Es gab für ihn keine Möglichkeit, nach England zu reisen. Er besaß kein Auto. Und ein Flugticket konnte er sich neben dieser hohen Gebühr für das Seminar einfach nicht leisten. - Doch dann packte ihn die Wut. Mit einem Mal schien ihm nichts wichtiger, als dieses Treffen mit den Leuten vom 'Tor zur Sonne'.
Das verfallene Gehöft in Cornwall war doch wie geschaffen für so ein unheimliches, geheimes Seminar. Dort lebten einst Kelten und ihre Druiden, die gewiss auch heute noch durch die Moore geisterten.
 
Gregor versuchte, Kontakt zu anderen Aufbruchswilligen zu bekommen. Doch er hatte wenig Glück. Man verspottete ihn. Einige sagten auch ehrlich, dass ihnen die Sache zu teuer wäre oder zu abgedreht. Doch dann meldete sich ein gewisser Tom bei ihm. In ihm fand er endlich einen Gleichgesinnten.
Tom besaß ein Auto und bot Gregor an, ihn mitzunehmen. Er erklärte das so: „Ich versuche, noch zwei weitere Interessierte zu finden. Ich buche für alle Plätze auf der Fähre. Wir teilen uns dann die Fahrtkosten. Ich komme am Tag nach Weihnachten mit dem Wagen und hole dich ab. Einverstanden?”
Gregor konnte kaum noch still sitzen. Selbst sein Computer wurde zur Arbeitslosigkeit verdammt. Was bedeutete schon die künstliche Welt gegen so ein mystisches Abenteuer in Cornwall?
Er ließ sich zwei Wochen Urlaub geben und holte das Geld von der Bank ab - fast seine gesamten Ersparnisse. Die langweiligen Feiertage mit den Eltern und seiner Schwester kamen ihm vor, als müsste er eine Strafe absitzen. Von dem Trip nach Cornwall erwähnte er lieber nichts. Seine Familie verstand ihn ja doch nicht und mäkelte so schon genug an ihm herum. Doch auch solche Tage gehen einmal vorüber.
Die Hupe von Toms Wagen löste endlich die unerträgliche Spannung. Gregor schnappte sich seinen Rucksack, fühlte nach Geld und Papieren und rannte auf die Straße.
Der lebhafte Tom hätte leicht als Gregors Bruder durchgehen können. Er hatte zwar nicht die gleiche Frisur, aber die gleichen dunklen Haare. Beide besaßen die gleiche schlanke Figur und waren in etwa gleich groß. Sie verstanden sich von der ersten Minute an.
Schnell verstaute Tom Gregors Gepäck. Dann zeigte er auf die Rückbank seines altersschwachen Gefährts. "Das sind Inge und Rudi. Zu viert wird die Fahrt billiger und bestimmt auch lustiger.”
Inge wirkte beruhigend normal, weder zickig noch eingebildet. Sie hatte lustige blaue Augen und Grübchen, wenn sie lachte. Ihr langes blondes Haar hielt ein Band zusammen. Sie rief: „Willkommen an Bord. Wir werden uns bestimmt vertragen.“
Rudi war ein stämmiger, gutmütiger Typ. Sein hellbraunes Haar wirkte etwas struppig über dem rundlichen, vor Aufregung rosig angehauchtem Gesicht. Auch er winkte fröhlich. Gregor wusste gleich, dass dieser Ausflug sich zu einem tollen Abenteuer entwickeln würde.
Die Vier genossen die Fahrt. Sie lachten und wussten immer neue dumme Sprüche, gerade so, als wären sie alte Freunde. Sie konnten ja nicht ahnen, was sie in Cornwall erwartete.
Im Hamburger Hafen an den Landungsbrücken wartete schon die Fähre ‚Prinz Hamlet‘, die sie nach Harwich bringen sollte. Tom meinte verlegen: "Ich hoffe, Inge nimmt es nicht krumm, dass ich für uns alle eine Viererkabine gebucht habe?"
Inge sah die drei jungen Männer forschend an. Anscheinend fiel der Test positiv aus. Denn sie nickte. "In Ordnung, mit euch werde ich fertig."
Alle lachten übermütig. Sie warteten ungeduldig bis sie mit dem Wagen über die große Bugklappe im Bauch der Fähre verschwinden konnten. Nachdem der Wagen an seinem Platz festgezurrt war, kletterten sie mit ihrem Gepäck an Deck.
Sie standen an der Reling und sahen zu, wie das Schiff ablegte und langsam Fahrt aufnahm. Die Überfahrt verlief fast zu ruhig für die vier ausgelassenen neuen Freunde.
Als sie abends noch eine Weile auf den Betten in ihrer Kabine saßen, fiel ihnen das Ziel ihrer Reise wieder ein.
Inge sagte plötzlich bedrückt: „Ich weiß nicht, ob es richtig war mitzufahren. Denn von Sonnenanbetern liest man manchmal so schreckliche Sachen in den Zeitungen. Aber die Botschaften übten einen eigenartigen Reiz auf mich aus. Deshalb bin ich hier. Und die Sonnenanbeter hießen ja auch ganz anders.“
Tom lächelte überlegen. „Du siehst Gespenster. Ich finde den Gedanken toll, den ersten Sonnenstrahl im neuen Jahrtausend einzufangen. Dazu gehören auch – hoffe ich – geheimnisvolle Zeremonien. Unsere Welt ist so sachlich. Da brauchen wir doch einmal etwas für unser Gemüt - und kein Flugverbot für verrückte Gedanken.“
Gregor stimmte ihm zu. „Ich fühlte mich schon von der ersten Botschaft angezogen. Ich muss einfach diese Leute und das ‚Tor zur Sonne‘ kennenlernen.“
Rudi wollte nicht so recht mit der Sprache raus. Er sagte langsam: „Ach wisst ihr, ich bin eigentlich gar nicht für so abgehobenen Kram. Ich gehe ja auch nicht in die Kirche. Wenn ich ehrlich bin, kamen mir die Botschaften ziemlich albern vor.
Ich bin da so reingerutscht. Meine beiden Brüder gehen zu einer tollen Fete. Sie wollten mich nicht mitnehmen. Ich wäre zu spießig und passte nicht in die Clique. Da wurde ich bockig. Ich sagte, ich wüsste ein wirklich tolles Event in Cornwall. Sie wurden neugierig, aber ich verriet nichts. Um mich nicht zu blamieren, muss ich doch einfach bei dieser Fahrt mitmachen.“
Tom regte sich sofort auf. „Du nimmst das also gar nicht ernst? Du störst damit unsere Gruppe.“
Schnell sagte Rudi: „So musst du das nicht sehen. Ich mache mich doch nicht lustig über euch. Ich bin auch neugierig. Und ich finde die Fahrt mit euch einfach toll.“
Tom meinte versöhnt: „Hauptsache, wir halten zusammen. Alles andere ist doch egal.“
Sie diskutierten noch eine Weile. Irgendwann wurden sie müde und legten sich schlafen.
 
Von Harwich aus fuhren sie über London und Plymouth nach Truro und Falmouth. Unterwegs kaufte Inge ein und sie veranstalteten ein Picknick am Straßenrand. Zum Glück war die Temperatur einigermaßen erträglich.
Es wurde schon dunkel, als sie endlich Falmouth erreichten. Bei einem Bauern in der Nähe bekamen sie für ein paar Nächte Quartier. Sie waren zufrieden mit dem einfachen Zimmer mit vier Betten wie im Liegewagen übereinander. Dafür stimmte auch der Preis.
Am nächsten Morgen erkundeten sie als erstes die Umgebung. Neugierig betrachteten sie vor allem - zunächst aus der Ferne - das verfallene Gehöft am Rande der Klippen. Das Gebäude wirkte so düster, als ginge es dort nicht mit rechten Dingen zu. Ein Teil des Daches hing windschief über zerborstenem Mauerwerk. Langsam wagten sie sich näher. Da entdeckten sie, dass der Hauptteil des Gebäudes noch völlig intakt war. Doch die blinden Fensterscheiben erlaubten keinen Blick ins Innere. Tom rüttelte an dem Tor. Doch es gab nicht nach. Sie suchten sich einen Weg rund um das ungeahnt weitläufige Gebäude. Dabei stolperten sie über Schutt und die Wurzeln der hohen Bäume, die hier die Herrschaft übernommen hatten. Hinter dem Haus fanden sie einen schmalen Pfad der direkt am Klippenrand entlang führte.
Als sie wieder auf dem sicheren, breiten Weg anlangten, fröstelte Inge. „Einen gruseligeren Platz hätten die sich nicht aussuchen können. Da hausen bestimmt noch diverse böse Geister.“
Tom hakte sie unter. „Kommt, trinken wir irgendwo einen heißen Kaffee. – Und dann besichtigen wir die Docks von Falmouth.“
Sie gingen über die hölzernen Piers, die von großen Pfosten gesichert wurden. Es wirkte alles so antiquiert, als wäre hier seit hundert Jahren nichts verändert worden. Sie sahen ein paar Fischerboote, einen Kümo und ein paar Barkassen. Aber es schien hier niemand zu arbeiten.
Sie gingen ein gutes Stück stadteinwärts. Doch auch die Anlegestelle für Touristenschiffe war völlig verwaist.
Kein Wunder, jetzt hielt der kleine Badeort seinen Winterschlaf. Es war ja kalt und ungemütlich. In dem ganzen Ort gab es nirgendwo eine vernünftige Heizung. Nur Kamine, die man auch noch in die Wand eingebaut hatte, so dass nur die Vorderfront Wärme abgeben konnte. Zum Glück hatten die Vier warme Klamotten dabei. Damit deckten sie sich auch nachts zu. Denn die Decken taugten nicht viel.
Abends saßen sie im ‚Laughing Pirate‘. Im Pub wurde es schon durch die vielen Menschen warm. Die Preise für die Getränke waren gepfeffert, so dass sie sich lange an ihrem Glas fest halten mussten. Plötzlich rief der Wirt ‚Last orders please‘ – Letzte Bestellungen bitte. In England schmiss man nämlich die Gäste schon um 22 Uhr aus den Pubs.
 
Am Sylvesterabend brachen sie zu ihrem Abenteuer auf. Sie fuhren mit dem Wagen nur bis in die Nähe des Gehöfts. Denn dort gab es kaum Parkmöglichkeiten. Auf einem Platz am Waldrand stellten sie den Wagen ab und gingen den letzten Teil des Weges zu Fuß.
Inge fürchtete sich und hakte sich bei Gregor ein. Denn zwischen den Bäumen tauchten immer neue gespenstische Schatten auf, die sich nicht verjagen ließen. Seltsame Geräusche bedrängten sie von allen Seiten.
Endlich erreichten sie den Weg, der sie ans Ziel bringen würde. Im unsicheren Licht des Mondes schien sich das verfallene Gehöft in einen Furcht erregenden Gasthof aus den transsylvanischen Wäldern zu verwandeln.
Vor dem Gebäude standen lila gekleidete Gestalten. Ihre Gewänder reichten von den Füßen bis über den Kopf. In dieser verwunschenen Landschaft konnte man glauben, sie kämen geradewegs von Alpha Centauri oder der Wega. Die vier Freunde waren langsam so weit, so irre Sachen zu glauben.
Am Tor warteten bereits viele Teilnehmer des Seminars auf Einlass. Die lila Gestalten versuchten, dazwischen Ordnung zu halten. Die vier Freunde gingen zu der langen Schlange der Wartenden und stellten sich brav an. Es dauerte lange bis endlich nur noch ein Mann vor Gregor stand.
Der lila Typ sagte kühl: "Bitte zahl die Gebühr, trag dich ein und gib mir den Brief."
Der Angesprochene zögerte. "Hier ist der Brief. Aber ich besitze nicht so viel Geld.”
Dann ging alles blitzschnell. Drei lila Typen sprangen auf den Mann zu. Zwei griffen hart seine Arme. Der dritte packte seine linke Hand und presste einen Metallbolzen darauf. Der so Misshandelte schrie laut auf.
Er starrte entsetzt das Sonnenlogo an, das sich auf seinem linken Handrücken abzeichnete. "Geht das auch wieder ab?"
Einer dieser lila Brüder schob ihn in das Innere des Gebäudes. "Natürlich, wenn du es nach dem Seminar noch immer wünschst. Es dient uns als Zeichen.”
Und dann stand Gregor vor dem lila Türsteher. Er lieferte den Brief ab, zahlte die Gebühr und unterschrieb einen Wisch, den er im Dunkeln nicht lesen konnte. Man ließ ihn und seine Freunde unbehelligt eintreten. Ihnen verpasste niemand das Sonnenlogo auf den Handrücken. Unsicher sahen sie sich um.
Sie befanden sich in einer riesigen Halle. Ringsum an den Wänden hockten dicht gedrängt die unterschiedlichsten Typen auf goldenen Sitzkissen am Boden. Hoch über ihren Köpfen führte eine Galerie rings um den Raum. Doch die Vier starrten wie gebannt nur auf eine Stelle. Da gab es von der Galerie aus eine Tür nach draußen. Das wirklich irre war der breite prächtige Rahmen um diese Tür. Er schien aus purem Gold. Seltsame Ornamente und Figuren wirkten auf den Betrachter wie Zeichen einer alten Schrift.
Inge sagte leise: „Die Tür geht genau nach Osten auf. Und ich wette, der erste Sonnenstrahl am Morgen trifft genau die Mitte des Bodens. Seht nur...“
Genau dort sahen sie das gewaltige Sonnenlogo aus goldenem Metall.
Rudi drängte die Freunde. „Lasst uns lieber einen Platz suchen. Es bleibt sicher noch genug Zeit, alles anzusehen. Es ist schon ziemlich voll.“
Die vier Freunde fanden noch Plätze nebeneinander. Die Kissen waren hart und sehr unbequem. Sie nahmen Inge in die Mitte. Denn es drängten sich immer mehr Seminarteilnehmer neben sie. Es mussten inzwischen mehrere hundert sein.
Irgendwann schlossen die Eingeweihten, wie sich die lila Gestalten nannten, das Tor nach draußen. Dann versammelten sie sich und schritten langsam zu ihren Plätzen. Sie bildeten einen zweiten Kreis um das große Sonnenlogo in der Mitte.
Plötzlich verlöschten die vielen nackten Glühbirnen an der Decke. Ein einsamer Strahler warf sein grelles Licht in die Mitte des Raums.
Ein Gong ertönte.
Eine Stimme rief: "Der Meister!"
Ein großer hagerer Mann mit leuchtend weißen Haaren trat in den beleuchteten Innenraum – genau auf das Logo. Es wurde totenstill, als er die Arme ausbreitete. Unter dem lila Überwurf trug er ein funkelndes, goldenes Gewand. Viele der Anwesenden schienen die Zeremonie zu kennen. Sie standen auf, kreuzten die Arme vor der Brust und neigten den Kopf. Alle anderen taten es ihnen nach.
Die Stimme des Meisters klang unerwartet hell und durchdringend: "Ich begrüße euch als meine Freunde und als Wanderer auf dem Weg zum Tor zur Sonne! Wir werden die Stunden bis zum Aufgang der Königin der Gestirne gemeinsam in diesem Raum meditieren, beten, singen und ein einfaches Mahl zu uns nehmen.
Wenn uns der erste Strahl der Sonne im neuen Jahrtausend trifft, wird das alte Ritual seinen Anfang nehmen. Sieben Eleven werden sich bewähren und in den Kreis der Eingeweihten aufgenommen.”
Seine Stimme wurde leiser. Das Licht des Strahlers erlosch. Als die vielen nackten Glühbirnen wieder hell wurden, war der Meister verschwunden.
 
Jetzt erhoben sich mehrere der lila gekleideten Typen und liefen geschäftig hin und her. Einige kamen mit Musikinstrumenten zurück. Sie setzten sich wieder auf den Boden um die goldene Sonne. Doch jetzt wandten sie den übrigen Gästen ihre Gesichter zu.
Langsam ging das Licht bis auf wenige Birnen aus. In dem Halbdunkel stimmten sie ihre Instrumente. Ihre Musik klang wenig harmonisch. Doch mit der Zeit versetzte die Eintönigkeit der Melodien alle in einen Zustand der Willenlosigkeit. Die Musiker wiegten ihre Körper zum Klang der fremdartigen Töne. Bald bewegten sich alle Anwesenden im gleichen Takt - wie in Trance. Die vielen Körper neigten sich wellenförmig wie die Glieder einer riesigen Schlange.
Rudi sagte leise: "Ist der Meister nun ein Guru oder ein Scharlatan?”
Doch unter dem strengen Blick eines Eingeweihten verstummte er sofort.
Irgendwann - den Menschen war das Gefühl für die Zeit verloren gegangen - wurde es wieder hell. Die Instrumente verstummten nacheinander. Die Zuhörer hielten in ihren Bewegungen inne. Alle atmeten auf, als hätten sie eine schwere Anstrengung hinter sich.
Sofort änderte sich das Bild. Die Gäste sollten wohl keine Zeit zum Nachdenken finden. Die Vertrauten des Meisters schleppten jetzt Schüsseln mit Obst und Brot heran und stellten sie vor die Gäste auf den Boden. Andere schenkten aus großen Krügen Wein in Plastikbecher. Aber auch das Mahl ließ keine Fröhlichkeit aufkommen. Alle aßen schweigend und tranken dazu den schweren Wein. Die Freunde steckten die Köpfe zusammen. Sie wagten nur zu flüstern. Sie fühlten sich unbehaglich und wären am liebsten gegangen.
Der Zeiger der großen Uhr gegenüber dem goldenen Tor wanderte gegen Mitternacht. Das Licht verlosch wieder. Der Strahler beleuchtete das Emblem in der Mitte des Fußbodens. Der Meister erschien dort und sein goldenes Gewand funkelte in dem harten Licht. Es schien, als verschmölze die Gestalt mit dem Sonnenlogo auf dem Boden. Er hob die Arme. „Hört! Es ist Mitternacht! Das neue Jahrtausend hat begonnen. Wir wollen uns erheben.“
Alle standen auf. Durch die geöffnete Eingangstür hörten sie von ferne Kirchenglocken.
Erst als diese verstummt und die Eingangstür wieder verschlossen war, sprach der Meister wieder. „Hört, was ich euch zu sagen habe. Eines Tages werden wir alle – jeder zu der ihm bestimmten Stunde - durch das Tor zur Sonne gehen.
Dort werden wir Frieden finden. Wem Gnade widerfährt, den wird die Königin der Gestirne in die Arme schließen. -
Wenn sie im Osten über den Horizont steigt, soll es geschehen.“
Der Meister schlug den lila Überwurf über dem goldenen Gewand zusammen. Gleichzeitig verdämmerte der Strahler. Es wurde dunkel im Raum. - Seine helle Stimme sang die nächsten Worte: „Lasst uns die vorgeschriebenen Gebete sprechen...“
Ein eintöniges Gemurmel erfüllte die Halle, schwoll an, um dann wieder zu einem Flüstern herab zu sinken. Müdigkeit überfiel die Gäste. Gregor bemühte sich, wach zu bleiben. Auch seine Freunde kämpften gegen den Schlaf. Anderen schien es nicht besser zu gehen. Inge wickelte sich als erste in ihren Mantel und legte sich auf den Boden. Tom, Gregor und Rudi fielen auch die Augen zu. Ihnen blieb kaum Zeit, sich mit ihren warmen Jacken zuzudecken. Das Gemurmel - vielleicht auch der Wein - schickte ihnen beängstigende Träume...
 
Als sie erwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel.
Aber diese Königin der Gestirne kümmerte sich nicht darum, dass die Menschen in ihrer unwichtigen Zeitrechnung ein neues Jahrtausend feierten. Wie schon seit Milliarden von Jahren folgte sie ihrer Bahn um den Mittelpunkt ihrer Galaxis und schleppte ihre Planeten und deren Monde mit sich.
 
Die Neulinge bei diesem Seminar kämpften noch verwirrt mit dem Schlaf. Alles schien verändert. Das Tor oben auf der Galerie stand weit offen und ließ das Sonnenlicht herein. Doch die dekorative, breite Umrahmung aus Edelmetall fehlte. Das Tor zur Sonne war nur noch eine einfache Tür in der Mauer.
Die lila Gestalten waren verschwunden und mit ihnen die meisten Teilnehmer dieser seltsamen Veranstaltung. Das verbliebene Häufchen bestand nur noch aus höchstens dreißig Personen. Sie erhoben sich langsam. Ihr Verstand weigerte sich, den Sinn des absurden Anblicks zu begreifen. Das wachsende Entsetzen verschloss ihnen den Mund.
Das Sonnenlicht fiel genau in die Mitte des Raumes. Das große Sonnenlogo hatten die Anhänger des Meisters mitgenommen. Stattdessen lagen dort sieben Menschen sternförmig angeordnet am Boden. In der Mitte berührten ihre Füße eine bunte Erdkugel aus Metall – so als stünden sie auf ihr. Ihre Köpfe lagen weit auseinander, ihre Arme hatte man weit ausgestreckt, so dass sich ihre Hände berührten. Sie mussten tot sein. Denn dort wo einst ihr Herz schlug, ragte jetzt bei jedem von ihnen der goldene Griff eines Dolches aus der Brust. Rote Rinnsale waren von den Wunden auf den Boden getropft.
Als die verschreckten Menschen plötzlich begriffen, was geschehen war, jammerten sie und schrien.
Da sprang ein energischer junger Mann in die Mitte zu den Toten. Er hob ein Schild vom Boden auf und hielt es ihnen entgegen. Er brüllte: „Ruhe! Hört, was hier geschrieben steht.“
Es wurde augenblicklich still. Der junge Mann wusste die Worte anscheinend auswendig: “Da steht: Diese Menschen wollten unseren Kreis stören. Darauf gibt es nur eine Antwort. Wir schickten sie durch das Tor zur Sonne. Aber wir wollen ihnen verzeihen. Denn die Sonne nahm unser Opfer gnädig an. Schweigt gegen Jedermann. Denn ihr gehört jetzt zu uns. Und ihr wollt doch nicht zu Verrätern werden. – Wir sehen uns wieder!”
Der Mann musterte die verstörten Gesichter verächtlich. Würden die jemals das Opfer darbringen können? –
Der Meister machte niemals Fehler. Darum durften die Neulinge der Opferzeremonie auf keinen Fall beiwohnen. Man würde sie zuerst gründlichen Prüfungen unterziehen.
Seine Stimme wurde noch eindringlicher: "Wir wollen jede Panik vermeiden. Verlasst dieses Gebäude ruhig und steigt in eure Autos. Je eher ihr dieser Gegend den Rücken kehrt, um so besser für uns alle. Die Polizei könnte uns sonst für Mörder halten."
Danach verließ der Vertraute des Meisters langsam das verfallene Gehöft. Das Schild nahm er mit sich.
 
Die ersten Neulinge nahmen hastig ihre Sachen und drängten ins Freie. Sie begriffen noch gar nicht, in welche Falle sie geraten waren.
Tom fasste Rudi und Inge bei der Hand. "Los kommt! Bloß weg von diesem verfluchten Ort.” Sie hasteten durch den Wald zum Wagen. Doch Gregor wollte mehr wissen. Er ging zu den Toten und betrachtete sie. Ihre Gesichter zeigten ungläubiges Entsetzen.
Er sah auf und bemerkte, dass er mit den Toten allein war. Angst griff nach ihm. Vielleicht war die Polizei schon auf dem Weg hierher? Er floh ins Freie. Ohne zu überlegen rannte er den ganzen Weg bis zum Auto.
Als er dort eintraf, keuchte er: „Ich habe mir die Toten genau angesehen. Alle sieben hatten das Sonnenlogo auf dem linken Handrücken. So ein Brandzeichen bekam zum Beispiel am Tor der Mann vor mir, weil er seine Gebühr nicht bezahlen konnte.”
Rudi starrte ihn entsetzt an: "Heißt das, wir hätten uns frei gekauft?”
Tom sagte düster: “Ja, für dieses eine Mal! - Weiß jemand von euch eigentlich, was wir da unterschrieben haben?”
Sie schüttelten die Köpfe.
Inge jammerte: „Wir haben nichts in der Hand. Wir mussten doch die Briefe abgeben, das einzige Beweisstück. – Aber sie kennen uns und unsere Adressen.“
Gregors Worte kamen der Wahrheit ziemlich nahe. “Ich fürchte, dieser Vertrag enthält keine Rücktrittsklausel.
Wir haben unsere Seelen verkauft.”

   
 

 

Wie gewonnen, so zerronnen.
 
Emil war ein plietscher Hamburger Jung.
So langweilige Sachen wie Socken oder Krawatten an den eleganten Herrn zu bringen, hatte er längst abgehakt. Auch seinen neuen Job als Kaufhausdetektiv konnte er getrost knicken. Nur in Säulen rumzustehen, die von draußen wie Spiegel aussahen, machte ja den härtesten Macker rammdösig.
Nein, ihn reizte das ganz große Geld.
Er hielt nämlich Augen und Ohren offen. Autos nach Afrika zu verschiffen, das brachte richtig Kohle in die Taschen.
Doch ohne genügend Schotter lief so was nicht. – Wenn er da unten nicht wenigstens mit einer Karre mit Stern auftauchte, konnte er den Deal vergessen.
Seine paar Kröten auf der hohen Kante langten bei weitem nicht. Also trug er sonntags nebenbei Zeitungen aus und kellnerte jeden Abend in verräucherten Kneipen. Außerdem verscheuerte er seinen Fernseher, die Musikanlage und was er sonst noch entbehren konnte.
So kriegte er die Kohle überraschend schnell zusammen.
Gerade zur rechten Zeit lernte er Gerd kennen. Der Typ lebte auf Gran Canaria und trieb sich seit ein paar Wochen in Hamburg rum.
Gerd fand Emils Idee total krass. „Komm einfach mit auf die Insel. Von da kannst du nach Afrika rüberspucken. Wenn du bei mir in meiner Kneipe malochen hilfst, kriegst du dafür einen Platz zum pennen und was zu beißen.
Aber zuerst müssen wir deine neue Karre nach Cadiz bringe. Da gehen wir dann auf die Fähre.“
Sie klapperten zu zweit die Autohäuser und Verkaufsmärkte ab. Und sie wurden fündig.
Emil trennte sich nun auch von so spießigen Sachen wie seiner Wohnung, unnötigen Klamotten und Gerätschaften. Dann ging es los.
 
Für Oktober war es schon ziemlich kalt. Aber sie fuhren ja der Sonne entgegen. Um die Autobahngebühren in Frankreich und Spanien zu sparen, benutzten sie die alten Landstraßen quer über die Pyrenäen. Sie schliefen im Wagen und ernährten sich von Brot und was sie sonst abstauben konnten.
Nach einer Woche erreichten sie Cadiz. Die Überfahrt sollte zwei Tage dauern. Wegen der gepfefferten Preise an Bord deckten sie sich mit genügend Proviant ein.
Sie mussten die Kabine mit zwei anderen Typen teilen. Die Jungs waren richtig locker drauf. Sie hatten Rotwein dabei und ließen die Flaschen reihum gehen. Emil und Gerd revan­chierten sich mit der Verpflegung.
Es war Emils erste Seereise. Er stand oft an der Reling und beobachtete die kabbelige See. Wohin er auch sah – bis zum Horizont gab es nur den gewaltigen Atlantik. Die Wellen schienen jede in eine andere Richtung unterwegs zu sein. Und doch musste es etwas Gemeinsames geben, das sie voran trieb.
Bei diesem Anblick fühlte Emil sich klein und hilflos.
Am zweiten Tag wuchs in der Ferne die Insel aus dem Meer – mit unerwartet hohen Bergen.
Als die Fähre den Hafen erreichte, setzten sich Emil und Gerd in ihren Wagen. Die Luken öffneten sich wie von Geisterhand und sie rollten an Land. Gerd lotste Emil durch viele enge Einbahnstraßen. Sie fanden mit Glück einen Parkplatz – ganz in der Nähe von Gerds Kneipe.
Von wegen!
Emil sah sich neugierig in dem Lokal um. Der Tresen bildete ein großes ‚U‘ mit vielen Hockern davor. An der Seite standen noch ein paar Tische.
Emil drehte sich nach Gerd um. Doch der hatte sich verdrückt.
Der Mann hinter dem Tresen fragte freundlich: „Wie kommst du hierher? Willst du länger bleiben? Ich heiße Knud, da in der Küche steht mein Weib Elsa.“
Emil stotterte: „Ich bleibe nur ein paar Tage bis ich ein Schiff nach Afrika finde. Gerd hat mir Essen und einen Schlafplatz versprochen, wenn ich ihm hier in seiner Kneipe helfe.“
Knud bog sich vor Lachen und rief seine Frau.
Dann wandte er sich an Emil: „Also eins musst du dir merken. Solchen Strolchen wie Gerd darfst du kein Wort glauben. Leider laufen hier von der Sorte mehr als genug rum.
Die Kneipe gehört nämlich uns. Gerd macht einen auf Lebenskünstler. Manchmal renoviert er Wohnungen. Doch meistens tröstet er einsame Herzen.“
Elsa bemerkte Emils Enttäuschung. „Du willst ja nicht ewig bleiben. Wir haben eine kleine Kammer mit Bett. Da kannst du erst mal pennen. Und zu essen gibt es bei uns auch genug. Dafür gehst du uns halt zur Hand, einkaufen, Kisten schleppen und was so anfällt... Einverstanden?“
Dankbar atmete Emil auf.
Die Zusammenarbeit klappte sogar hervorragend. Wenn es nach Knud und Elsa gegangen wäre, hätte Emil gern noch länger bleiben können.
 
Doch Emil dachte nur an den Superdeal. In jeder freien Minute lief er durch den Hafen. Und er fand was er suchte. Es gab da eine besonders günstige Verbindung nach Mauretanien. Er besorgte sich noch ein französisches Wörterbuch. Denn das Land gehörte früher mal zu Frankreich. Nach einem kurzen Abschied von Knud und Elsa brachte Emil sein Auto an Bord.
Es handelte sich um eine kleine rostige Fähre. Kabinen gab es nicht. Die Passagiere hockten an Deck auf den Planken. Wer müde war, streckte sich da aus, wo er Platz fand. Einmal am Tag verteilte die Mannschaft eine Art Fladenbrot und Wasser.
Doch das schien die vorwiegend arabischen Männer und Frauen nicht zu kratzen. Sie schwatzten und lachten. Manchmal klopfte einer Emil freundlich auf die Schulter.
Obwohl kaum Wind aufkam, stampfte der alte Seelenverkäufer schwerfällig gegen Südost.
Emil befürchtete schon, diese Fahrt nähme niemals ein Ende.
Doch plötzlich lag ein anderer Geruch in der Luft. Die Männer sprangen auf und stürzten zur Reling. Land in Sicht! – Die Küste und die Hafenstadt Nouadhibou kamen langsam näher. Emil starrte auf das fremde Bild, nur Sand und Geröll so weit er sehen konnte. Selbst die Häuser wirkten wie aus Sand zusammengebackt.
Emil fühlte sich unbehaglich. Aber er tröstete sich, er würde ja nicht lange bleiben.
Doch da irrte er sich gewaltig.
Als er mit seinem Wagen den müden Frachter verließ, hinderten ihn mehrere Uniformierte an der Weiterfahrt. Er musste auf einen eingezäunten Hof fahren. Ein Offizier fuchtelte mit einer Pistole herum und bedeutete ihm, seine Sachen zu nehmen und den Wagen zu verlassen. Dann schoben sie ihn ziemlich unhöflich in einen kahlen Raum mit einem wackeligen Schreibtisch und ein paar Stühlen. Bis auf einen drahtigen kleinen Kerl verließen alle den Raum.
Der Typ konnte sogar ein paar Brocken deutsch. „Du warten – Dolmetscher.“
Emil sagte ärgerlich: „Was soll das Theater? Ich will hier nur den Wagen verkaufen.“
Die Augen des Zöllners funkelten: „Ich Hassan – ich dir helfen.“
Da kam der Offizier mit dem Dolmetscher zurück. Sie prüften Emils Papiere und fragten ihn aus.
Endlich meinte der Dolmetscher: „So, du willst das Auto verkaufen? – Das braucht Zeit. Dafür kommt der Chef aus der Hauptstadt Nouakschott mit dem Stempel – vielleicht in einer Woche – vielleicht in einem Monat. Du musst warten.“
Dann gingen die beiden Männer und nahmen Emils Papiere mit.
Hassan rieb sich grinsend die Hände. „Du wohnen bei Hassan. - Ich dein Auto verkaufen. Du geben Hassan viele Dollars.“
Emil fühlte sich völlig am Ende. Was war das für ein Land? Sicher gab es in diesem Kaff nicht einmal ein Hotel.
Als Emil nicht gleich antwortete, sagte Hassan bescheidener:
„200 Dollars?“
Emil nickte. Was blieb ihm anderes übrig. Er saß hier fest.
Sein Bild von Afrika bekam gerade einen gehörigen Knacks. Außerdem knurrte sein Magen. Doch es dauerte noch eine Weile, bis Hassan endlich gehen durfte.
Zunächst schleppte der Zöllner Emil zum Basar der Stadt. Sie betraten einen mit Teppi­chen verhangenen Raum, der mit vielen fremdartigen Gegenständen vollgestopft war.
Hassan stellte den Besitzer als Jussuf vor und fragte Emil: „Du noch Dollars?“
Sie setzten sich auf den Boden und tranken Tee. Die beiden Araber redeten auf Emil ein, dass er in dieser Hitze unbedingt einen Turban und bequeme Sandalen brauchte. - Emil ließ sich breitschlagen. Für Jussuf war das ein prima Geschäft. Emil sollte den Kauf aber nicht bereuen.
Bis zu Hassans Hütte am Stadtrand war es ein weiter Weg. Beim Gehen wirbelten sie massenhaft Sand auf, der sich überall in der Kleidung festsetzte, die Augen tränen ließ und den Mund austrocknete.
 
Hassans rundliche Frau Rhea schien nicht erstaunt über den Besuch des Fremden. Sie zeigte auf den Boden, wo schon einige Kinder saßen. Emil bekam einen Löffel und aß mit allen anderen aus dem großen Topf.
Doch als der erste Heißhunger gestillt war, betrachtete er den Inhalt des Topfes genauer. Das Essen erinnerte ihn an Vogelfutter. Alles triefte vor Fett. Außerdem schwammen darin so seltsame Spinnenbeine herum.
Emil legte den Löffel weg.
Doch er sollte sich noch daran gewöhnen, denn es gab in den nächsten Wochen nichts anderes.
Nach dem Essen führte ihn Hassan in einen kleinen Anbau. Da standen ein rostiges Fahrrad, Lampen und Sachen, die Emil nicht so schnell unterbringen konnte.
Hassan erklärte stolz: „Alles vom Zoll – ich verkaufen.“
Dann schob er das Gerümpel mit dem Fuß bei Seite. „Du hier schlafen.“
Die Zeit schlich dahin. Am Tage war es unerträglich heiß. Und nachts fror Emil unter der Decke, die Rhea ihm gegeben hatte. Immer wieder ging er zum Zoll und betrachtete sein schönes Auto durch das Gitter. Nach und nach bedeckte eine dicke Sandschicht den blauen Metalliclack. Das so entstandene neue Modell wirkte wie ein fremdartiges Kunstwerk aus Sand. - Manchmal sah Emil den Offizier. Doch der schüttelte nur abweisend den Kopf.
Rhea war immer freundlich, wusch Emils Sachen und gab ihm Wasser, so oft er es wünschte. Er langweilte sich und bot Rhea eines Tages an, Wasser vom Brunnen zu holen. Doch Rhea schlug die Hände über dem Kopf zusammen und lachte. Kein Mann würde hier zum Brunnen gehen.
Allmählich lernte Emil ein paar Worte ihrer Sprache. Er schlich die staubigen Wege entlang und beobachtete die Menschen. Oft sah er Männer auf dem Boden hocken, rauchen und heftig diskutieren. Anscheinend arbeitete hier niemand richtig. Auch Hassan saß ja die meiste Zeit nur herum.
Aber wer würde denn freiwillig bei dieser sengenden Hitze auch nur einen Finger krumm machen.
 
Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Der Kerl mit dem Stempel war aus der Hauptstadt angereist. Emil bekam alle Papiere zurück. Und Hassan präsentierte wie selbstverständlich einen Käufer.
Emil bekam weit über 10.000 Dollar. Der Käufer bestellte sofort ein zweites Auto, aber bitte größer und mehr PS.
Emil gab Hassan 500 Dollar ab. Ein zerbeultes Taxi ohne Fahrertür brachte ihn zu Rhea. Er verabschiedete sich, drückte ihr auch ein paar Dollar in die Hand und holte seine Tasche.
Dann zeigte der irre Fahrer, was er drauf hatte und raste in einem Höllentempo über Sand- und Schotterpisten zum Flugplatz. Auf dem sandigen Rollfeld wartete schon eine alt­modische Propellermaschine auf die Startgenehmigung nach Laayoune.
Emil hätte am liebsten vor Freude geheult, weil er dieses armselige, öde Land endlich verlassen durfte. Das Geld trug er in einem Beutel am Körper. Er sah zwar nicht gerade wohlhabend aus. Aber man konnte ja nicht wissen.
Von Laayoune flog eine Maschine zurück nach Las Palmas. Die paar Stunden Aufenthalt konnten ihn jetzt nicht mehr schrecken.
 
Knud und Elsa hatten nicht damit gerechnet, Emil noch einmal zu sehen. Hier kamen so viele Deutsche an und verschwanden nach einiger Zeit – und niemand wusste wohin.
Doch Emil hielt es nicht auf der Insel. Jetzt lockte ein weit größerer Deal. Er wollte dem Typ in Mauretanien noch ein Auto liefern. Der Kerl zahlte schließlich bar auf die Hand. Inzwischen kannte er sich in dem Land auch aus. Er würde eben für genügend Proviant und warme Klamotten für die Nacht sorgen.
Mit dem nächsten Flugzeug ging es zurück nach Hamburg. Ein Kumpel von früher ließ ihn auf dem Sofa schlafen. Sofort nahm er sich die Zeitungen vor. Am Samstag sollte ein großer Automarkt stattfinden - von Privat an Privat - genau das Richtige.
Emil begutachtete die angebotenen Wagen mit Kennermiene. Es dauerte nicht lange und er fand genau das richtige Modell. Der Preis von 20 Mille war ein Witz für so ein Geschoß.
Die Typen drängelten, er müsste sich schnell entscheiden. Es gäbe noch genug andere Interessenten, die auf die Karre heiß wären.
Emil prüfte die Papiere. Alles schien sauber. Er zahlte und setzte sich hinter das Lenkrad. Der Motor schnurrte. Emil konnte sein Glück kaum fassen.
Er hätte wissen müssen, dass bei so einem Superdeal meistens etwas faul ist. Er kam nämlich nicht weit.
Als er vom Parkplatz auf die Straße fuhr, hielten ihn ein paar Bullen an. „Zeigen Sie mal Ihre Papiere.“
Er musste aussteigen. Die Polizisten untersuchten den Schlitten. Einer holte sein Handy raus.
Dann sagte er zu Emil. „Kommen Sie mit zur Wache. Der Wagen wurde gestohlen gemeldet.“
Emil schrie: „Und meine Kohle? 20 Mille habe ich dafür hingeblättert!“
„Das Geld können Sie vergessen! Gestohlene Ware wird beschlagnahmt.“
Emil durfte noch froh sein, dass man ihm seine Story glaubte und ihn nicht als Dieb einbuchten wollte.
       
 

Alkohol am Steuer

 

 

  Georg trank gern mal einen über den Durst. Seine Frau Julia beklagte sich darüber, denn das passierte viel zu oft. Doch er fand dafür gute Entschuldigungen.

  Gleich nach dem Krieg bekam er in Hamburg nämlich nur Arbeit am Bau. Und der staubige Beton machte durstig. Drei Kasten Bier am Tag reichten da nur knapp für die trockenen Kehlen ihrer Kolonne.

  Später ergatterte Georg noch eine Lehrstelle bei einer Schiffahrtsfirma. Da ging es ihm auch nicht besser. Denn wer im Hafen zu tun hatte, sollte besser eine gut gemeinte Einladung nicht abschlagen.

 

  Nach seiner Lehrzeit lernte Georg Julia kennen. Sie gingen zusammen, wie man früher eine Beziehung ziemlich prüde umschrieb.

  Ohne Vorwarnung bekam Georgs Selbstwertgefühl einen gehörigen Knacks. Er rutschte in eine Polizeikontrolle und musste ins Röhrchen pusten. Das bedeutete für ihn ein langes halbes Jahr Führerscheinentzug.

  Er besabbelte Julia danach so lange, bis sie endlich nachgab und sich widerwillig durch die Fahrstunden und die Theorie quälte. Der Prüfer gab ihr den Führerschein mit spitzen Fingern. „Mal sehen, wie lange das gut geht.”

Um dann noch abfällig zu bemerken: „Frauen am Steuer?” Denn in den fünfziger Jahren wagte sich nur selten eine Frau hinter das Lenkrad.

Doch nach der bestandenen Prüfung fing das Elend für Julia erst richtig an. Es gibt ja wohl nichts Schlimmeres als einen frustrierten Mann auf dem Beifahrersitz, dem man die Fleppen abgenommen hat.

  Schweißgebadet und völlig verunsichert folgte Julia Georgs Anweisungen und jagte mit hundert Sachen durch die Stadt. So etwas wie Geschwindigkeitsbegrenzung gab es nämlich noch nicht.

  Zum Glück ging diese Zeit auch einmal vorüber.

  Ein Jahr später heirateten Georg und Julia. Seine angeblich männliche Überlegenheit - das Wort Macho war noch nicht in - nahm Julia nicht ernst. So sahen sich die Männer anscheinend alle. Georg war ja fleißig und schielte nicht nach anderen Frauen. Seine Kneipenbesuche würde sie ihm schon noch abgewöhnen.

  Es gab nach dem Krieg kaum Wohnungen. Und ihnen fehlten auch die nötigen Punkte. So kauften sie kurzentschlossen ein Grundstück mit Behelfsheim auf Leibrente. Um die hohe Grunderwerbsteuer zu sparen, bauten sie das Behelfsheim in Eigenhilfe aus. Sie schufteten bis zum Umfallen. Denn die einst so arbeitgeberfreundliche 48 Stundenwoche ließ ihnen nur wenig Freizeit.

Als das Haus fertig war, waren es Georg und Julia auch. Dazu kam, dass Julia nach der Geburt ihres kleinen Sohnes Tom ihre Arbeit im Büro nicht aufgegeben hatte.

  Georg besaß einen unangenehmen Fehler. Er ließ sich nichts sagen - auch nicht in seiner Firma. Doch warum musste er seinem Chef gleich voller Wut die Arbeit vor die Füße schmeißen?

  Die Dame beim Arbeitsamt hob den Finger. „Tut mir leid. Wer selbst kündigt, wird erst einmal gesperrt.”

  Da saßen sie nun - mit noch weniger Geld. Schuld hatten natürlich nur die anderen. Und der Alkoholkonsum stieg mit der schlechten Laune und der Langeweile.

  Bis ihn so ein Typ von einer Barkassenfirma überredete, sich selbständig zu machen. Gesagt, getan. Eine weitere Hypothek auf das Haus brachte das nötige Eigenkapital.

  Julia gab ihren Job auf und kümmerte sich um die Buchhaltung. Der kleine Tom fühlte sich zum Glück im Kindergarten ausgesprochen wohl. Alles schien sich jetzt positiv zu entwickeln.

 

  Das änderte sich schlagartig nach Georgs wirklich toller Geburtstagsfeier. Alle Gäste waren schon gegangen - bis auf Alfred. Alfred besaß kein Auto. Und der letzte Zug war auch schon weg.

  Mit einer gewissen Menge Alkohol im Blut fühlte sich Georg besonders stark. Großspurig sagte er: „Komm, ich bringe dich nach Haus. Für einen Freund tue ich alles.”

  Julias Einwände ließ er nicht gelten. Die Männer gingen raus und stiegen ins Auto.

  Zwei Stunden später klingelte das Telefon. Julia ahnte gleich nichts Gutes.

  Eine barsche Männerstimme herrschte sie an: ”Hier Budapester Wache! Holen Sie Ihren Mann ab. Er darf nicht mehr fahren.”

  Julia bestellte ein Taxi. Das Geld fiel nun auch nicht mehr ins Gewicht.

  Auf der Wache erfuhr sie, dass ihr lieber Mann die Straßen mit 2.2 Promille unsicher gemacht hatte. Schon fast wieder zu Hause war er in eine Kontrolle geraten. Auf jeden Fall blieb Georgs Führerschein gleich bei den Akten. Jetzt durfte Julia neben der Arbeit im Büro und im Haus auch noch den Chauffeur spielen.

  Aber bei dem unvermeidlichen Ausflug mit den Schwiegereltern setzte sich Georg trotz Julias Gezeter selbst ans Steuer. Die sollten doch nichts merken.

  Die Gerichtsverhandlung versetzte ihnen einen Tiefschlag. Denn in diesem Jahr - man schrieb 1963 - hatte sich die Behörde in Hamburg eine besonders harte Strafe für Alkoholsünder ausgedacht. Neben dem Führerscheinentzug für ein Jahr und einer Geldstrafe von DM 2.000.- erhielt Georg vier Wochen Haft - ohne Bewährung.

  Georg versuchte erst einmal, das Einsitzen hinauszuschieben. Er erklärte schriftlich, seine Firma existierte doch erst kurze Zeit und niemand könnte ihn da vertreten.

  Doch Ende des Jahres war er dran.

  Von einem Hafenarbeiter bekam er den heißen Tip. „Lass dich nicht reinlegen, Chef. Geh erst kurz vor Weihnachten in den Bau. Mit einem Gnadengesuch bist du Heiligabend wieder draußen.”

  Georg regelte also alles in der Firma und erzählte überall, er könnte eine dringende Geschäftsreise nach Köln nicht länger aufschieben.

  Julia musste ihn am 15. Dezember nach Sta. Fu - dem Gefängnis in Hamburg Fuhlsbüttel - bringen.

 

  Ein unfreundlicher Wärter nahm Georgs Sachen an sich und befahl ihm, seine Taschen zu leeren. Dann fragte der Zerberus: „Wohin willst du?

  Entweder du gehst nach Glasmoor. Da kannst du an der frischen Luft arbeiten. Du kriegst auch sofort Zigaretten wie jeder andere Knacki.

  Oder du bleibst erst einmal hier in Einzelhaft - ohne Zigaretten. Später schieben wir dich ab ins Untersuchungsgefängnis.”

  Georg wurde bockig. Wie kam der Kerl dazu, ihn als Knacki zu bezeichnen? „Arbeiten muss ich draußen schon genug. Glasmoor kommt für mich nicht in Frage.”

  Der Wärter konnte so renitente Brüder nicht ausstehen. Er rasselte mit seinen Schlüsseln und winkte Georg ungeduldig, ihm zu folgen. Die langen Gänge und die vielen Eisentore kratzten an Georgs Selbstbewusstsein.

  Endlich schloss der Wärter eine Tür auf und stieß Georg hindurch. Die kahle Zelle ließ den braven Bürger schaudern. Hoffentlich gab es hier keine Wanzen?

  Georg sollten die Stunden und Tage lang werden - ganz ohne Gesellschaft. Es gab nichts zu lesen und kein Radio. Er horchte auf jedes Geräusch, zufallende Türen, Stimmen oder das Trappeln von Füßen. Während der halben Stunde Freigang trottete er stets ganz allein auf dem Hof im Kreis herum. Dabei fühlte er sich von 1000 Augen beobachtet. - Und der Fraß aus dem Blechnapf schmeckte schlechter als das Essen im Krieg.

  Doch am meisten quälte ihn der Jachter nach einer Zigarette. Er war ein starker Raucher. Der Entzug weckte in ihm wilde Agressionen.

  Als man ihn nach drei Tagen aus dem Loch holte und ins Untersuchungsgefängnis brachte, flatterten seine Nerven. Er bestieg die ‘grüne Minna’ wie im Tran. Was ging ihn die Welt da draußen an.

 

  Julia sah, wie die kleine Tür hinter Georg zuschlug. Wütend fuhr sie nach Hause. Warum musste ausgerechnet ihr Mann so oft besoffen ins Auto steigen? Hoffentlich lernte er im Knast etwas dazu?

  Julia fühlte sich während der nächsten Tage total überfordert. Für sämtlichen Mist war sie zuständig.

  In der Firma lief normalerweise alles wie von selbst. Jetzt lernte sie jedoch ein völlig neues Betriebsklima kennen. Die Angestellten hielten sie wohl für total blöd. Sie ließen die Arbeit liegen und machten sich auf Kosten der Firma ein paar flotte Tage. Es gelang Julia nur selten, die Meute zu motivieren.

  Der kleine Tom war gerade sechs Jahre alt und besuchte schon die Schule. Nach dem Unterricht ging er allein zum Kindergarten. Von dort holte Julia ihn dann ab. Der Junge wusste so wenig wie die Schwiegereltern, wo sein Vater sich wirklich aufhielt. Julias eigene Eltern lebten nicht mehr. Das machte alles noch schwieriger.

  An diesem Abend begann es zu schneien. Doch die weiße Pracht blieb nicht liegen. In der Nacht fror dann alles über, so dass Wege und Straßen sich in Eisbahnen verwandelten. Am nächsten Morgen schaffte Julia es einfach nicht, mit dem Wagen die Auffahrt zur Straße hoch zu kommen. Sie musste zum Krämer laufen und Streusalz holen. Dann endlich griffen die Reifen und der Wagen schoss ziemlich unkontrolliert auf die Hauptstraße vor ihrem Grundstück.

  Julia setzte Tom vor der Schule ab und fuhr ins Büro. Am Abend bat sie den Wirt vom Gasthof gegenüber, ob sie den Wagen auf seinem Parkplatz abstellen dürfte. Seine Zusage ersparte ihr das nervige Manöver, den Wagen bei diesem Wetter vom Grundstück auf die Straße zu bugsieren.

  Zwei Tage später bekam Julia einen Anruf vom Kindergarten. Tom hatte sich verletzt und musste an der Augenbraue geklammert werden. Als letzten Ausweg meldete Julia ihren Sohn dort und in der Schule krank und brachte ihn zu den Schwiegereltern.

Am Tag darauf klingelte wieder das Telefon im Büro. Julia wollte schon gar nicht mehr rangehen.

  Es meldete sich ein Herr Krüger. ”Ich soll Ihnen schöne Grüße von Ihrem Mann ausrichten. Ich traf ihn gestern auf der Messe. Es geht ihm gut. Sie brauchen sich um ihn keine Sorgen zu machen. Er meldet sich bald.”

  Julia starrte böse auf den Apparat. Sorgen hatte sie weiß Gott genug. Aber Georg ging es gut - na prima.

 

  Im Untersuchungsgefängnis gefiel es Georg schon viel besser.

  Sie hockten mit zwölf Mann in einer Zelle - elf Alkoholsünder, so gut bürgerlich wie er selbst, und ein kleiner Ladendieb.

  Gesprächsthemen gab es genug. Jeder erzählte seine Lebensgeschichte und wie sie ihn erwischt hatten. Außerdem wollten alle den einzigen Kriminellen - den Ladendieb - zurück auf den rechten Weg bringen.

  Hier erfuhr Georg auch, welche Rechte ihm zustanden. Es lief fast alles über den Gefängnispfarrer. Man musste sich nur rechtzeitig für seine Sprechstunden anmelden. Der Pfarrer half Georg, das Gnadengesuch aufzusetzen. Und er vermittelte ein Gespräch mit Julia.

  Die Männer fühlten sich zu Unrecht eingesperrt. Sie schimpften und vertrieben sich die Zeit mit Skat spielen. Die Karten hatten sie selbst angefertigt. Dabei fehlte ihnen doch eigentlich nur noch von Zeit zu Zeit eine Lage ‘Lütt und Lütt’ und ein anständiges Essen aus der nächsten Kneipe.

  Dann würde noch direkt so etwas wie Urlaubstimmung aufkommen - so fern ab von dem alltäglichen Streß.

 

  Julias Lage entwickelte sich dagegen ziemlich mies. Im Büro ging einiges schief. Die Elbe drohte zuzufrieren. Und die Binnenschiffe kamen einfach nicht los.

  Dazu rief Tom dauernd an: „Wann darf ich wieder nach Hause kommen? Meine Freunde warten auf mich. Es gibt doch auch bald Schulferien.”

  Außerdem schneite es immer wieder. Julia musste zu allem Überfluss jeden Tag Schnee schippen.

  Langsam wuchs ihr Zorn auf Georg. Sein Telefonanruf brachte sie erst richtig in Rage. Ihm ging es gut - wie schön für ihn!

  Am 20. Dezember bekam Julia ein Telegramm aus dem UG: ‚Gnadengesuch abgelehnt. - Du musst zum Sozialbeauftragten’

  Darunter stand die Adresse von dem Kerl und - Georg.

  Ihre Knie gaben nach. Sie sackte auf einen Stuhl. Nahm der Horror denn nie ein Ende? Es blieb ihr ja keine Wahl. Nur dieser Bittgang konnte das Weihnachtsfest noch retten.

  Der Mann hinter dem Schreibtisch begrüßte sie sehr freundlich und bat sie, Platz zu nehmen. Dann suchte er Georgs Akte heraus.

  Er schüttelte den Kopf. ”Tja, da lässt sich nichts machen. Am 24.Dezember wird nur auf dem Gnadenweg entlassen, wer schon die Hälfte seiner Strafe abgesessen hat. Ihr Mann hätte sich eben schon am 10. in Fuhlsbüttel melden müssen und nicht erst am 15.Dezember.”

  Julia war total fertig. Sie saß da und konnte nicht aufstehen. Sie wusste nicht mehr weiter.

  Plötzlich brach es aus ihr heraus: ”Ich habe es satt! - Ich kann nicht mehr! - In der Firma gibt es nur Ärger, mein kleiner Sohn hatte einen Unfall und meine Schwiegereltern wissen von nichts. Was soll ich denen denn sagen?”

  Da schoss ihr plötzlich eine glänzende Idee durch den Kopf. „Lassen Sie mich für meinen Mann den Rest Strafe absitzen. Dann habe ich meine Ruhe. Und er kann sich zu Haus die Platze ärgern.”

  Der Mann sagte irritiert: „Wie stellen Sie sich das vor? Das geht rechtlich gar nicht. Außerdem sitzen Sie da mit Prostituierten und asozialem Pack zusammen - keine feine Gesellschaft.”

  Aber Julia gefiel die Idee immer besser. „Das macht mir nichts aus. Das kann alles nicht so schlimm sein wie das Theater zu Haus.”

  Langsam quollen dicke Tränen aus ihren Augenwinkeln.

  Der Beamte lächelte. „Wissen Sie was? Da tagt gerade so ein Ausschuss. Mal sehen, was die Herren zu Ihrem Vorschlag sagen.”

  Sie gingen zum Fahrstuhl und ließen sich ein paar Stockwerke höher tragen.

 

  Julia war ziemlich flau im Magen.

  Der Sozialbeauftragte klopfte gegen eine Tür und öffnete sie. An einem großen Tisch saßen sechs gewichtige Herren in grauen Anzügen.

  Der Soziale schob Julia zum Tisch und sagte: „Da ist wieder so ein Fall. - Am besten sie erzählt Ihnen selbst, was sie bedrückt.”

  Julia zitterte vor Aufregung. Sie wischte sich energisch die Tränen weg und hielt sich an ihrer Handtasche fest. „Mein Mann sitzt im Untersuchungsgefängnis - wegen Alkohol. Er darf Weihnachten nicht raus, weil er noch nicht die Hälfte seiner Strafe abgesessen hat. Ihm geht es da prima. Er muss sich um nichts sorgen.”

  Sie sah die Männer flehend an. ”Ich will mit ihm tauschen. Soll er doch seinem kleinen Sohn und seinen Eltern erklären, warum Weihnachten bei uns ausfällt. Ich will nichts als endlich meine Ruhe.”

  Die Männer boten Julia einen Stuhl an und eine Tasse Kaffee. Dann stellten sie Fragen nach den häuslichen Verhältnissen.

  Schließlich nickte einer den anderen zu. ”Es ist doch immer das Gleiche. Die Leidtragenden sind die Familien.”

  Die Herren schienen milde gestimmt. Der Vorgesetzte am Kopfende des Tisches ergriff endlich das Wort: „Kleine Frau, wir wollen Ihnen helfen. Sie dürfen Ihren Mann am 24. früh morgens um 10 Uhr vom Untersuchungsgefängnis abholen.

  Aber sagen Sie ihm, das hat er nur Ihnen zu verdanken.”

  Jetzt liefen die Tränen doch wieder. Julia bedankte sich überschwenglich...

 

  Damals gab es noch ein Postamt am Jungfernstieg - also ganz in der Nähe. Die elegante junge Frau hinter dem Schalter drehte das Telegrammformular zwischen den Fingern und sah Julia abschätzend an.

  Laut sagte sie: „Untersuchungsgefängnis? - Sind Sie sicher, dass die Adresse stimmt?”

  Die Umstehenden lachten und tuschelten.

  Julia lief rot an. „Ganz sicher! Da sitzt mein Mann.”

  Die Dame las auch den Text laut vor: „Warte Heiligabend 10 Uhr vor dem Tor - Julia.”

  Da kam ein junger Mann auf Julia zu und drückte ihr die Hand. „Gratuliere! Dann wünsche ich Ihnen ein frohes Weihnachtsfest.”

  Sie sah ihm verblüfft nach. Jetzt erst begriff sie, dass noch alles gut werden würde.

 

  Genau um 10 Uhr öffnete sich das Tor des Untersuchungsgefängnisses und einige Männer kamen heraus - darunter auch Georg. Sie verteilten sich auf die verschiedenen wartenden Fahrzeuge.

  Georg ließ sich gut gelaunt auf den Beifahrersitz fallen. „Das hat ja mal wieder alles prima geklappt. - Was hältst du davon, wenn wir noch ein paar Geschenke kaufen?”

  Julia konnte seine Fröhlichkeit nicht teilen. Er fragte nicht einmal, wie es ihr ergangen war. Oder wie sie es geschafft hatte, ihn da herauszuholen.

  Plötzlich begriff sie nicht mehr, warum sie sich so verrückt gemacht hatte, den Kerl um jeden Preis frei zu kriegen. Ohne ihn hätten sie das Weihnachtsfest auch überlebt.

  Sie holten den Jungen ab und besorgten noch einen windschiefen Tannenbaum. Nachmittags kamen dann die Schwiegereltern und die Oma. Es gab Karpfen wie jedes Jahr, Süßigkeiten und Geschenke.

  Bei Julia blieb ein fader Geschmack zurück.

 

  Es dauerte zwölf Jahre bis die Polizei Georg wieder betrunken am Steuer erwischte. Die Eintragungen in Flensburg waren längst gelöscht. So hielt sich seine Strafe in Grenzen - ein Jahr Führerscheinentzug und dieses Mal DM 3000.- Strafe.

  Zwei Jahre später verlor Georg den Schein endgültig.

  Wie der Arzt sagte, war die Sache mit dem Alkohol eine schlimme Krankheit.

Georg starb mit 51 Jahren.

 

 

 

 

Die Rentenformel

 

Elena kam gerade von einer ausgedehnten Radtour zurück. Sie schaffte ihr Stahlroß in den Keller und ging hinauf in ihre Wohnung. Dankbar dachte sie an die Errungenschaften der modernen Medizin. Noch vor 50Jahren wäre ein 70jähriger Mensch kaum so fit gewesen wie sie heute. Über Krankheiten wie Krebs, Herzinfarkt oder ähnliche Geißeln des 20.Jahrhunderts konnten sie nur lachen. Auch Rheuma mit seinen ekelhaften Schmerzen gab es schon seit 100 Jahren nicht mehr.

Heutzutage starben die Menschen an Herzversagen - jedenfalls die meisten. Unfälle ließen sich leider nicht ganz vermeiden, aber man arbeitete daran.

In dem vergangenen Jahr hatte Elena viele Freunde verloren. Alle waren kerngesund bis zum letzten Tag. Und dann plötzlich - wie vom Blitz getroffen - fielen sie um und waren sofort tot...

Elena öffnete den Briefkasten. Darin lag nur ein amtlich aussehendes Schreiben. Es enthielt die Aufforderung, sie möchte sich am nächsten Tag beim Amtsarzt zur Untersuchung einfinden. - Sie begriff das nicht. Ihr fehlte absolut nichts.

Sie erhielt bisher nur ein einziges Mal so eine Vorladung.

Nämlich als sie mit 60 Jahren in Rente ging. Das war  genau vor zehn Jahren.

Damals handelte es sich mehr um so ein Routineding. Der Arzt untersuchte sie nur flüchtig. Er zeigte mehr Interesse daran, ihre Daten in einem Computer zu speichern - unter ihrem persönlichen Geheimcode.

Dieses Mal sah der junge, ziemlich arrogante Mediziner nur kurz in seinen Computer. „Ein schönes Alter. Siebzig wird nicht jeder. Hatten Sie in den letzten Jahren irgendwelche Krankheiten?“

Elena schüttelte den Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht einmal Husten?“

„So so,“ brummte der junge Mann. „Gut für Ihre Krankenkasse.

Trotzdem kann ich Ihnen den Gesundheitscheck nicht ersparen.“

Während Elenas Körper sich langsam durch eine Röhre vorwärts bewegte, saß er vor seinem Computer. Er schien zu rechnen und irgendwelche Daten zu vergleichen. Dann betrachtete er die Bilder aus Elenas Innern auf einem Wandschirm.

Bevor sie sich anzog, verpasste er ihr noch eine Spritze.

Er wiegte den Kopf hin und her. „Ja beste Frau, Sie sollten langsam Ihre Angelegenheiten ordnen. Ihr Testbild lässt zu wünschen übrig. Aber keine Sorge, Sie müssen erst in zwei Jahren abtreten. Also genießen Sie Ihr Leben noch so lange.“

Elena sagte abwehrend: „Wie kommen Sie darauf? Mir geht es ausgezeichnet.“

Der junge Mann zuckte mit den Schultern. Was interessierte ihn die alte Frau. „Die Diagnose müssen Sie schon mir überlassen. Jeder Mensch trägt den Tod seit seiner Geburt in sich. Einmal trifft es eben auch Sie. - Vielleicht irre ich mich ja auch.“

Er betrachtete sie gleichgültig. Diese alten Leute nahmen sich doch viel zu wichtig.

 

Elena ging wie betäubt nach Hause. Natürlich musste sie damit rechnen, eines Tages so eine hölzerne Truhe zu beziehen. Aber sie fand es nicht gerade toll, den Termin schon im voraus zu wissen.

Plötzlich fiel ihr Ruth ein. Ihre Freundin starb vor einem halben Jahr - an Herzversagen.

Wenn sie sich richtig erinnerte, kannte Ruth ihren Todestag schon vorher, Zuletzt weinte sie - jetzt sind es nur noch vier Wochen, dann – nur noch zwei Wochen...

Bloß – woher wusste Ruth das?

Damals nahm Elena ihr Gejammer nicht besonders ernst. Ruth übertrieb nämlich gern. Trotzdem tröstete sie ihre Freundin immer wieder.

Und dann starb Ruth genau an dem Tag, den sie ausgerechnet hatte - einfach so - mit 68 Jahren.

Elena fühlte Angst in sich aufsteigen. Doch sie unterdrückte das Gefühl. Warum sollte sie auf das Datum starren. Bis dahin blieben ihr noch zwei Jahre.

Bei einem Besuch erzählte sie ihren Kindern von der Diagnose des Arztes. Doch die lachten sie nur aus.

Ihr Sohn wollte sie beruhigen: „Du sagst selbst, der Arzt hat zugegeben, er könnte sich auch irren. Du bist noch richtig knackig. Du machst es sicher noch fünfzehn Jahre.“

Wie sollte er sie auch verstehen. Der Tod war für ihn noch kein Thema.

Sie beschloss, den alten, 80 jährigen Fred zu besuchen.

Er war hoch erfreut und überredete sie zuerst einmal zu einer Partie Schach.

Danach fragte Elena ihn vorsichtig, wann er zuletzt zu einer amtsärztlichen Untersuchung musste.

Fred holte eine Flasche Likör aus dem Schrank und schenkte zwei Gläser voll. „Nun trink erst mal. - Also das ist schon ewig her. Ich kriegte die Aufforderung, als ich mit 62 Jahren die Rente anpeilte. Ich arbeitete dann noch ein paar Jahre ehrenamtlich bei so einer Hilfsorganisation. Irgendwann hatte ich aber die Schnauze voll. Da gab es immer so Typen, die sich profilieren wollten. Vor neun Jahren schmiss ich die Brocken hin.

Warum fragst du?“

„Ach nur so. Ich musste vor ein paar Tagen zum Amtsarzt. Schon komisch - vor genau 10 Jahren mit 60 hat mich meine Firma abgeschoben.“

Fred lachte auf. „Die haben wohl nicht genug zu tun. Darum lassen sie dich noch mal nach zehn Jahren antreten.“

Sie spielten noch eine Partie. Dann verabschiedete sich Elena.

 

Zu Hause begann ihr Gehirn wie ein Computer Daten zu produzieren.

Anscheinend war der Beginn des Rentnerdaseins ein wichtiges Datum. Ab 55 stand es jedem frei, sich vom Arbeitsleben zu verabschieden. Diese Untersuchung gehörte zu den Formalitäten, um an die Rente zu gelangen.

Jetzt versuchte Elena sich an Ruths Daten zu erinnern. Ihre  Freundin schmiß doch schon mit 56 die Arbeit hin und starb genau zwölf Jahre später.

Und sie selbst? Wenn die Voraussagen des Arztes stimmten, würde der Staat bei ihr auch nach zwölf Jahren die Zahlungen einstellen. – Wie unheimlich!

Halt! Bei Fred stimmte das nicht! – Das tröstete Elena. - Wie kam sie nur auf so eine bescheuerte Idee. Wer sollte denn die Menschen genau zum richtigen Zeitpunkt töten?

Am nächsten Morgen kochte sich Elena eine große Kanne Kaffee und setzte sich auf ihr Sofa. Sie musste jetzt in Ruhe überlegen, wie sie mit dieser Wahrheit umgehen sollte. Zwei Jahre waren keine besonders lange Zeit. Nicht wenn man schon so viele davon hinter sich gebracht hatte.

Eine gute Seite konnte sie der Sache aber abgewinnen. Sie brauchte nicht zu fürchten, dass sie schon vor diesem Datum den Abflug antreten musste.

Wichtig schien ihr, sich diese Zeit gut einzuteilen.

Zuerst wollte sie schriftlich ihr bisschen Habe verteilen. Und eine Reise musste unbedingt auch noch drin sein - möglichst eine Kreuzfahrt.

Aber es reizte sie auch herauszufinden, ob jemand diese plötzlichen Todesfälle der Leute manipulierte.

Sie legte also eine Liste an, in die sie schon mal Ruth, Fred und sich selbst eintrug.

Am Nachmittag beschloss sie, doch wieder zu diesem langweiligen Seniorentreff zu gehen. Hier bot sich die beste Gelegenheit, die Rentnerkaste auszufragen. - Doch das erwies sich als ziemlich schwierig.

Zuerst erkundigte sich Elena ganz harmlos, wie lange sich die Einzelnen schon Rentner nennen durften. Das fanden die Herrschaften noch witzig. Aber so wie die Rede auf die blöden Untersuchungen kam, wandten sich alle ab.

Also änderte Elena ihre Taktik und interessierte sich für die Todesfälle. Der Vorsitzende des Vereins holte stolz seine Mitgliederliste raus. Elena zeigte sich tief beeindruckt.

So erfuhr sie auch ganz nebenbei, wie lange die Verstorbenen Rente bezogen hatten. Bei den meisten dauerte dieser Lebensabschnitt genau zwölf Jahre. Nur wenige lebten etwas länger. –

Elena wusste nicht, was sie davon halten sollte.

Da blieb auch noch eine andere Frage offen. Woher wollte der Arzt wissen, dass ihr und vorher Ruth noch genau zwei Jahre Restlaufzeit blieben?

 

So verging das erste Jahr.

Elena gönnte sich eine tolle Kreuzfahrt. Bei jedem Landausflug war sie dabei. Sie wollte noch möglichst viele Länder kennenlernen.

Auch an Bord ließ sie das Thema Tod nicht los. Sie erschrak, denn in anderen Ländern schien das Ableben der Alten genau so geregelt. Ihre Liste wurde immer länger.

Sie war kaum von der Kreuzfahrt zurück, da rief Fred sie an, sie möchte ihn besuchen.

Nach der üblichen Partie Schach kam er zur Sache. „Du interessierst dich doch für die Besuche beim Amtsarzt? Also ich war gestern da. Der Kerl hat mir ganz cool mitgeteilt, ich würde es nur noch zwei Jahre machen.

Findest du es nicht auch seltsam, dass ich vor genau zehn Jahren auf mein Ehrenamt in dem Verein dankend verzichtete?“

Nachdenklich sagte er noch: „Weißt du, 83 Jahre sind wirklich genug. - Trotzdem wundert es mich, dass wir bei dem Stand der modernen Medizin nicht mindestens 120 Jahre alt werden.“

Jetzt war Elena sich ihrer Sache ziemlich sicher. Sie legte einen Aktenordner an, wo sie ihre Nachforschungen schön übersichtlich abheftete. Den würden ihre Kinder später finden. Sie könnten dann alles den Medien zur Verfügung stellen.

Dann schob sie die Gedanken an den nahen Tod bei Seite und genoss jeden Tag, der ihr noch blieb.

 

Als Elenas Zeit fast abgelaufen war, suchte sie den Amtsarzt auf. Die Sprechstundenhilfe wollte sie wegschicken.

Doch Elena sagte fest: „Ich weiß, warum ich nach 12 Jahren Rente sterben muss.“

Wenig später stand sie vor dem arroganten Mann im weißen Kittel.

Er fragte spöttisch: „Sind Sie krank?“

Elena sah ihn abfällig an. „Natürlich nicht. Trotzdem muss ich in wenigen Tagen sterben.“

Der Arzt lächelte überlegen. „Warum warten Sie es nicht ab?“

Elena fuhr ihn an: „Ich habe überall herumgefragt. - Wirklich aufschlussreich! - Nach 12 Jahre ohne Arbeit geht nichts mehr. Ehrlich gesagt, möchte ich wissen warum? Und - war es die Spritze?“

Der Arzt nickte. „Ich kann es Ihnen ruhig sagen. Sie kommen hier sowieso nicht mehr raus. Bei Ihrem letzten Besuch verpasste ich Ihnen die sogenannte demographische Spritze. Sie enthält Gene, die genau nach zwei Jahren den Zerfall der Zellen einleiten.

Das Ganze wurde bei der letzten Rentenreform beschlossen –und zwar global. Wer zwölf Jahre für die Allgemeinheit nichts mehr gebracht hat, soll den Weg für Jüngere frei machen. Sie müssen zugeben, auf eine wirklich humane Art und Weise.“

Elena sah ihn böse an. „Human? – Ich finde das makaber.“

Er drückte auf einen Knopf.

Als die Pfleger den Raum betraten, sagte er: „Früher haben die Eskimos ihre alten Leute auf einer Eisscholle ausgesetzt, damit die Eisbären sie fressen. – Das war makaber.“

 

Kurz darauf erhielten Elenas Kinder die Nachricht von ihrem Tod.

Sie konnten sich nicht erklären, warum jemand die Wohnung der alten Frau durchwühlt hatte. Denn es fehlte nichts.

 

 

 

 

Du bist online

 

In einem kleinen Ort in Deutschland starben am selben Tag, ja fast zur selben Stunde zwei wohl bekannte Männer.

Der eine, Pfarrer August Möller, predigte seit Jahren jeden Sonntag von der Kanzel, dass am Ende nur die guten Taten zählten. Auf seine Schäfchen machte das wenig Eindruck. Sie überhörten seine Worte und dösten lieber vor sich hin.

Der andere, Bruno Clemens, fuhr den großen Bus der einzigen Reisegesellschaft weit und breit. Es gab keinen Menschen in dieser Gegend, der nicht schon einmal zitternd in seinem Bus gesessen hatte, während er fröhlich pfeifend und mit quietschenden Reifen enge Kurven, steile Abfahrten oder rote Ampeln hinter sich ließ.

Man musste sich wirklich fragen, wieso er und seine Fahrgäste immer mit heiler Haut davon kamen.

Zur Trauerfeier für August Möller kamen fast alle Mitglieder der Gemeinde. Dagegen geleiteten nur wenige Menschen Bruno Clemens zu seiner letzten Ruhestätte.

Wie das so geht, erreichten die beiden Dahingeschiedenen zur selben Zeit das große Himmelstor.

Petrus erwartete sie. "Na, da seid ihr ja. Es ist schon alles gerichtet.”

Er nahm sie beide an die Hand und schwebte mit ihnen zu einem riesigen Gebirge aus Cumuluswolken. Hier gab es für sie keine Hindernisse. Sie überflogen die fremdartigen Berge oder tauchten darunter weg. Aber manchmal drangen sie auch mitten hindurch, ohne das Geringste zu spüren.

Endlich nickte Petrus ihnen zu und schob sie durch eine Lücke in der Wolkenmasse. Sie standen in einem großen Raum mit lockeren, luftigen Wänden und einer ebensolchen Decke. Es sah alles aus wie geformte Zuckerwatte, auch die große Liege. Ein weiter Panoramablick zeigte die Sterne mit ihren Planeten.

August Möller, der Pfarrer, wollte sich gleich setzen. Das war ein Zuhause nach seinem Geschmack.

Doch Petrus schüttelte den Kopf. "Nein, mein Sohn, du nicht. Diese Bleibe gehört Bruno Clemens, dem Busfahrer."

Petrus zog August Möller mit sich aus dem Raum in die Weiten des Himmels. Bald kannte der Pfarrer sich nicht mehr aus. Gerade als bewegten sie sich in einem Labyrinth. - Doch er lächelte zufrieden. Wenn der Busfahrer schon so eine tolle Unterkunft bekam, wie würde die für einen Pfarrer erst aussehen.

Er bemerkte im Vorbeigleiten Gruppen von Gestalten gleich ihm. Die diskutierten, lachten oder sangen fröhliche Lieder.

Ganz allmählich änderte sich ihre Umgebung. Anscheinend kamen sie in ein Schlechtwettergebiet. Dicke graue Wolken bedrängten sie von allen Seiten. August Möller erinnerte sich an die Kälte und Nässe auf der Erde. Hier fand Petrus nun die richtige Bleibe für seinen Begleiter.

August Möller schauderte. Der Raum wirkte wie eine Zelle im Gefängnis, die trüben grauen Wände wie Beton. Doch sie bestanden auch aus Wolken, genau wie der gemütliche Raum des Busfahrers - nur schwer vor Regen. Die Liege, das einzige Möbelstück, sah hart und unbequem aus. Einen Panoramablick gab es auch nicht.

Erschrocken drehte August Möller sich um und griff nach Petrus' Ärmel. "Halt, das muss ein Irrtum sein. Mir als Pfarrer steht doch etwas Besseres zu.”

”Ich irre mich nicht.” Petrus zog einen großen Plan heraus. "Genau hier ist deine Bleibe eingezeichnet. Wenn sie dir nicht gefällt, wendest du dich am besten an unseren allerhöchsten Chef."

Mit diesen Worten befreite Petrus seinen Ärmel aus der Hand des Neuankömmlings und schwebte davon...

August Möller war empört und wollte das Missverständnis an allerhöchster Stelle klären. Da man in der Unendlichkeit des  Himmels die Zeit nicht kennt, genügte sein Gedanke. Gerade hatte er ihn gedacht, befand er sich schon am Ziel.

So klein wie eine Ameise stand er am Fuße des riesigen goldenen Throns. Er senkte den Kopf und trug sein Anliegen vor.

Zuerst hörte er nur ein Rauschen wie von tausend Flügeln. Dann drang die gewaltige Stimme in seine Gedanken.

"Höre mein Sohn, es hat alles seine Richtigkeit! So wie ihr Menschen gerade erst Datenbanken benutzt, speichern wir seit Ewigkeiten alle eure Taten.

 

In dem Buch der Bücher steht geschrieben: Jeden Sonntag bei  deinen langweiligen Predigten schliefen deine Schäfchen in den Bänken ein.

Wenn dagegen Bruno Clemens mit dem Bus durch enge Kurven jagte vorbei an gefährlichen Abgründen...

Dann zitterten die Leute und - beteten.”

 

 

So ein toller Plan

 

Anna saß am Küchentisch und starrte in die leere Kaffeetasse. Wie war sie bloß in diesen Schlamassel geraten? - Alles fing damit an, dass sie eines Tages auf die abartige Idee kam, das Leben ließe sich nur als Ehefrau ertragen.

Gerade zu dieser Zeit lief ihr Kurt über den Weg. Es fiel ihr auch nicht schwer, ihn zum Standesamt zu schleifen.

Doch auf ihn und die Hausarbeit hatte sie schon nach kurzer Zeit eine Stinkwut. Sie brauchte nur daran zu denken, was jeden Abend auf sie wartete. Wenn Kurt sich gestresst von der Arbeit vom Fernsehen berieseln ließ, musste sie in der Küche schuften. Meistens erntete sie für ihre Plackerei nur Gequengel. Aber wie sollte sie etwas Anständiges auf den Tisch bringen, wenn er nicht mit genug Kohle rüberkam?

Da war Harry doch ein ganz anderer Kerl. Der spielte immer den großzügigen Freier. Und wenn Kurt auf Montage musste, kroch sie zu dem feurigen Harry unter die Decke.

Er drückte sich zwar vor allem, was nach geregelter Arbeit aussah. Trotzdem blieb immer genug Knete an seinen Fingern hängen.

Sie konnten später nicht mehr so genau sagen, wer zuerst auf diese krasse Idee gekommen war. Dabei lag es doch auf der Hand.

Ein Leben ohne Kurt löste wirklich alle Probleme. - Den Jackpot nicht zu vergessen, der auf sie wartete. Der liebe Kurt hatte nämlich vor einem Jahr eine knackige Lebens- versicherung abgeschlossen. „Damit mein Frauchen keine Not leiden muss, falls mir was passiert", sagte er. - Leider passierte ihm aber nichts!

Harry kannte sich auf dem Gebiet aus. Da musste man eben etwas nachhelfen. Er wusste auch schon wie.

Kurt rannte doch jede Woche zum Friedhof. Dort saß er vor dem Grab seiner Eltern auf einer Bank und döste vor sich hin. Vielleicht ging es ihm ja auch nur um den Sechserpack Bier, den er da auf ihr Wohl leerte.

Endlich kam wieder so ein Tag heran. Harry holte sein Klappmesser heraus. Er erledigte die Arbeit schnell und geräuschlos.

 

An den folgenden Tagen ging die Polizei bei Anna ein und aus. Den Männern tat die junge Witwe leid. Sicher handelte es sich in diesem Fall wieder um einen dieser Raubmorde, deren Akten später ungelöst in den Regalen verschimmelten.

Ganz in schwarz ging Anna ein paar Tage später zur Versicherung. Sie kramte dort die Police aus der Tasche. Die junge Frau hinter dem Schreibtisch prüfte das Papier und suchte den Vorgang in ihrem Computer.

Sie stutzte und sah Anna unsicher an. „Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick. Ich möchte etwas klären.”

Doch Anna musste vie1 länger als einen Augenblick warten. Sie rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. Die Tante wollte doch nicht etwa die Polizei rufen?

Endlich kam sie mit einem älteren Herrn zurück. Der setzte sich Anna gegenüber. Sein rotes Gesicht g1änzte vor Nervosität. Diese Unterredung hätte er gern einem anderen überlassen.

„Arme kleine Frau, ich wünschte wirklich ich könnte Ihnen diesen Schlag ersparen. Die Trauer um Ihren Mann nimmt Sie bestimmt schon genug mit."

Anna hielt sich krampfhaft an ihrer Handtasche fest. Was  wollte der Mann von ihr?

Der holte tief Luft. „Wir bedauern es außerordentlich. Aber  wir können die Versiche-rungssumme nicht an Sie auszahlen.”

Anna kamen fast die Tränen: „Aber warum nicht? Vor Ihnen liegt die gültige Police. Mir steht das Geld zu.”

Der Mann wurde schon ungeduldig. “So ist aber die Rechtslage! - Die Schuld trägt ganz allein Ihr Gatte. Er zahlte nach Abschluss des Vertrages nur die ersten zwei Raten. Dann kam er zu uns und bat um Stundung. So etwas kommt immer wieder vor.

Da Ihr Gatte die Zahlungen bis heute nicht wieder aufnahm, wurde der Vertrag nie rechtskräftig.”

Völlig fertig kam Anna zu Hause an. Kein Geld von der Versicherung! Und sie hatte sich doch schon ausgemalt, was sie von der vielen Kohle alles kaufen wollte.-

Allmählich beruhigte sie sich . Harry liebte sie doch über alles. Er würde sie bestimmt trösten und ihr helfen...

Harry reagierte aber am Telefon ziemlich kühl. Er machte mit ihr einen neutralen Treffpunkt aus. Er wollte das Trauerhaus nicht betreten - wegen der Polente. Anna zog sich schnell um. Harrv konnte nämlich das schwarze Zeug nicht leiden.

Im Park lief Anna ihm entgegen und warf sich in seine Arme.

„Ich bin so froh, dich zu sehen. Du glaubst ja nicht, wie gemein diese Leute bei der Versicherung waren. Ich fühle mich total am Ende.”

Harry schob sie von sich und deutete auf eine Bank. „Wir  wollen uns setzen. Es gibt einiges zu besprechen.”

Sie lehnte sich an ihn. Nun würde er sagen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Auf ihn könnte sie sich voll und ganz verlassen.

Doch es kam anders.

Er rückte zur Seite und sagte kalt: „Du nimmst dich jetzt besser zusammen. - Zwischen uns läuft nichts mehr. - Ich setze mich nämlich hier ab. Woher soll ich denn das Geld nehmen, um so einen schrägen Vogel wie dich auszuhalten?”

Er grinste gemein. „Übrigens - jede Arbeit hat ihren Preis! Aber keine Angst, du kriegst Rabatt. - Sagen wir 50 Mille. Wie viel davon kannst du bis morgen locker machen?”

Anna kapierte überhaupt nichts. „Aber Harry, wie redest du mit mir?”

Der fuhr sie wütend an: „Tu nicht so dämlich! Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen. Also wie viel?”

Anna zitterte vor Enttäuschung. Sie brauchte doch selbst Geld. Die nächste Miete war bald fällig.

Seine harten Augen machten ihr Angst.

Zögernd sagte sie: „Mit meinem Sparbuch kriege ich vielleicht 5.000 zusammen.”

Harry stand auf. „Gut, morgen hier um die gleiche Zeit. Ich komme dann alle drei Monate und kassiere ab.

Wenn du nicht spurst, sorge ich dafür, dass du den Rest deiner Tage hinter Gittern kampierst. Ich kann dir nur raten, mich bei Laune zu halten ... “

 

Anna saß zusammengesunken am Küchentisch. Kurt konnte ihr nicht mehr helfen. Und die kleine Witwenrente reichte kaum für die Miete.

Wenn sie überleben wollte, musste sie zurück in das verhasste Büro. Da fühlte sie sich doch schon damals wie ein Meerschweinchen im Laufrad.

Und als ob das nicht genügte, saß ihr auch noch Harry im Genick.

 

 
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