Igors Welt

Kurzgeschichte von Gisela Seeger-Ays

Nichts faszinierte Igor mehr als Computerspiele. Jede freie Minute verbrachte er vor dem Bildschirm in seinem Zimmmer. Er kämpfte gegen Ritter, Robocops oder gräßliche Monster aus dem All. Eine innere Unruhe trieb Igor, immer weiter zu machen. Er mußte wenigstens das nächste Paßwort finden. Denn damit blieb ihm beim vorzeitigen Aus der totale Rücksturz bis zum Beginn des Spiels erspart.

Wenn er sich endlich bis zum Ziel vorgearbeitet hatte, winkte ihm sogar eine saftige Belohnung. Er kannte nämlich Leute, die begierig darauf warteten, von ihm die Marschroute durch die kniffligen Actionspiele zu erfahren. Diese Typen verkauften sein Wissen dann gegen gutes Geld weiter. Es gab genug Verzweifelte, die diese Spiele allein nicht schafften, sondern selbst geschafft auf der Strecke blieben.

Die Eltern wetterten gegen Igors fatale und gefährliche Spielsucht. Wie sollte der Junge jemals sein Abitur schaffen? - Zu gemeinsamen Mahlzeiten erschien er nur widerwillig. Er schlang alles in sich hinein, um bloß keine Zeit zu verlieren.

Die Großeltern nahmen Igor in Schutz und lachten: „Wenn der Junge doch so viel Spaß an der neuen Technik hat. Ihr vergeßt ganz, daß ihr uns früher genau so auf die Nerven gegangen seid. Natürlich gab es damals noch keinen so neumodischen Kram. Aber denkt nur an die Legosteine oder den gräßlichen Chemiebaukasten.“

Da sich das Weihnachtsfest näherte, wurden die Diskussionen immer hitziger. Sicher würden die Großeltern wieder tief in die Taschen greifen, um den Jungen mit Nachschub für seine Leidenschaft zu versorgen. Igor hatte gerade das letzte Spiel siegreich zu Ende gebracht und hoffte jetzt auf das Fest. Er gab sich hilfsbereit, um seine Mutter einzuwickeln.

Endlich zeigte das Kalenderblatt den Heiligabend an. Igor besorgte den Tannenbaum und durfte ihn auch schmücken. Eigentlich fühlte er sich für dieses Theater schon zu alt. Aber er wollte den Eltern den Spaß nicht verderben. Am Nachmittag kamen die Großeltern. Igor umarmte seine Oma stürmisch. Mißtrauisch betrachtete er ihre kleine Handtasche. Na ja, mit einem Scheck wäre er auch zufrieden. Der Großvater betrat die Wohnstube etwas später. Er schnaufte und war hochrot im Gesicht. Die mitgebrachten Pakete trugen nur die Namen von Mutter und Vater.

Sie tranken Kaffee und aßen Weihnachtsplätzchen. Dann zündete der Vater die Kerzen am Tannenbaum an. Weihnachtslieder aus dem Kassettenrecorder sollten für die rechte Stimmung sorgen. Alle packten ihre Geschenke aus. Igor schluckte schwer an seiner Enttäuschung. Die Klamotten waren ja ganz passabel – genau was man als Insider tragen mußte. Aber... Plötzlich grinste sein Großvater und fragte Igor scheinheilig: „Na mein Junge, du wirkst irgendwie unzufrieden. Kannst du dir nicht vorstellen, daß wir mal knapp bei Kasse sind?“ Doch dann prustete er los. Noch atemlos gluckste er: „Geh doch mal in die Abstellkammer. Vielleicht liegen da noch ein paar kleine Pakete rum.“

Das ließ Igor sich nicht zweimal sagen. Er riß die Tür zur Kammer auf und stieß einen wilden Schrei aus. Mehrere große Kartons füllten den ganzen Raum aus. Er lief zurück und drückte die Großeltern, daß ihnen fast die Luft wegblieb. Unter dem Gelächter der Erwachsenen schleppte er alles gleich in sein Zimmer. Mit Schwung riß er die Kartons auf und holte den Inhalt ans Licht.

Opa sagte stolz. „Es handelt sich um das absolut letzte Topmodell, haben die Typen in dem Laden gesagt. Das nennt sich virtuelles Überlebenstraining.“

Bald glich Igors Zimmer dem Innern eines Raumschiffs. Eine breite Platte an der Wand ersetzte den Bildschirm. Der irre Kommandantensessel besaß ein in die Lehne eingebautes Steuerpult. Aus dem Gewirr von Kabeln führte eins zu dem Datenhandschuh und ein anderes zum Helm des Spielers.

Igor fand zwischen dem Verpackungsmaterial ein dickes Buch – die komplizierte Bedienungsanleitung. Doch er ignorierte das Werk. - Er schob schon das erste Spiel in den Schlitz. Es hieß: 'Verlorene Welt'. Seine Mutter meinte besorgt: "Dies Teufelszeug bringt noch Unglück über die ganze Familie.” Doch der Vater brummte: „Laß den Jungen wenigstens über die Feiertage in Ruhe.“ Und an Igors Adresse: „Ich kann dir aber nur raten, darüber die Schule nicht zu vernachlässigen.“ Die Großeltern lächelten zufrieden. Mit diesem Geschenk hatten sie den Vogel abgeschossen. Sie gingen mit den Eltern zurück in die Stube.

Die Männer schenkten sich einen Cognac ein. Die Mutter ließ sich mit einem Likörchen beruhigen.

Schon setzte sich Igor in den Sessel und zog Helm und Handschuh über. Er sah da kein Problem. Die Spiele glichen sich doch alle irgendwie. Doch er sollte sich irren. Das Spiel hatte es in sich. Auf der Platte an der Wand erschien ein schier undurchdringlicher Dschungel. Die Bäume wirkten so echt, als existierten sie wirklich. Igors Datenhandschuh führte ihn mitten hinein. Und die Umgebung veränderte sich mit jedem seiner Schritte. Die Illusion war perfekt. Er folgte einem Trampelpfad. Erschrocken wich er einer Schlange aus. Uber ihm in den Zweigen tobte eine Horde Affen. Das lenkte ihn von der Gefahr ab. Ein Pfeil traf ihn schmerzhaft.- Das Testbild füllte die Wand aus. - Ende!

Igor saß ernüchtert auf seinem Sessel. So schnell war er noch nie rausgeflogen. Er las also die ersten Seiten der Gebrauchsanweisung. Zu Beginn besaß er einige Kredite, aber nur ein Leben. Gelangte er jedoch trotz aller Gefahren bis zum nächsten Zwischenstop, bekam er weitere Leben oder Kredite, mit denen er in einem Arsenal Waffen kaufen durfte. - Auf jeden Fall mußte er zuerst diesen Dschungel hinter sich lassen.

Er begann neu, suchte einen anderen Weg, kämpfte sich durch das Dickicht. Doch er scheiterte immer wieder, wurde von Schlangen und Riesenskorpionen gebissen, fie1 in eine Grube – oder verfing sich in Netzen. Als er abends übermüdet ins Bett fiel, war er keinen Schritt weitergekommen.

Am ersten Feiertag stand er noch vor den Eltern auf, zog Helm und Handschuh über und drückte auf den Startknopf. Dieses Mal kletterte er am Stamm eines Baumes in die Höhe. So hoch oben drang mehr Licht durch das Laub. Hier konnte er seinen Feinden eher entkommen. Eine Lücke im Geäst gab den Blick auf eine Mauer frei. Das mußte das nächste Ziel sein! - Plötzlich hagelte es Pfeile. Eine Schlange wand sich um einen Ast. Er sprang voller Verzweiflung auf den nächsten Baum und landete sicher. Mutig schnellte er sich jetzt von Baum zu Baum. Nahe der Mauer rutschte er am Stamm herunter bis zum Boden. Er sah das Tor. Er schlug es gerade noch hinter sich zu, bevor ihn ein Säbelzahntiger anspringen konnte. Als Belohnung erhielt er zwei weitere Leben. Das Waffenarsenal enthielt nur ein Schwert und eine Feuerwaffe. Er wählte das Schwert, denn zu mehr reichten seine Kredite nicht. Von dort aus geriet Igor in ein Labyrinth. Jedes Mal wenn ihn eine Sackgasse narrte, sprangen ihm Ungeheuer entgegen, hungrige Bastarde mit Krallen und einem Gebiß wie ein Hai. Das Schwert konnte sie nur kurze Zeit lahm legen. Wenn er f1oh, um den richtigen Weg zu suchen, folgten sie ihm. Es dauerte nicht lange und die Meute nahm ihm seine drei Leben. - Das Testbild erschien.

Obwohl kein Versuch so ablief wie der vorige, entwickelte Igor eine gewisse Taktik. Etliche Male erreichte er das Labyrinth. Dort versuchte er den richtigen Weg zu finden, ohne die Ungeheuer aufzuscheuchen. Seine Nerven vibrierten inzwischen wie Spinnweben im Wind. Denn seine Erlebnisse wirkten so real, daß er jedes Mal um sein eigenes Leben zitterte. Nach vielen vergeblichen Versuchen entkam er doch noch dem Labyrinth. Für diesen Erfolg erhielt er einige Kredite. Er kaufte sich davon eine Art Kalaschnikow auf Laserbasis. So gerüstet wagte er sich weiter. Jetzt marschierte er eine Straße entlang. Aus beiden Richtungen schossen Autos heran. Geschickt wich er ihnen aus. Doch die eigentliche Gefahr drohte von oben. Hubschrauber stürzten sich auf ihn herab. In ihnen saßen Roboter, aus deren Zeigefinger Blitze schossen. Als einer seinen Kopf traf, spürte er einen heftigen Schmerz. Diese Attacke kostete ihn ein Leben. Er besann sich auf seine Waffe und traf einige dieser Blechvögel. Doch aus jedem Trümmerhaufen wuchsen drei neue. Auf der Straße begannen die Autos einander zu jagen. Igor sprang verzweifelt hin und her. Unerwartet traf ihn ein Feuerstoß eines Roboters an der Kehle. Seine Waffe besaß kaum noch Energie. - Da überrollte ihn ein Auto.- Das Testbild lachte ihn höhnisch aus.

Er kämpfte sich wieder und wieder durch den Dschungel und das Labyrinth bis zu dieser Straße vor. Doch er wurde von Mal zu Mal nervöser und versagte. - - Er gab natürlich seiner Mutter die Schuld. Warum mußte sie ihn auch so gemein erschrecken, nur weil er zum Essen kommen sollte. Was interessierte ihn die Gans mit Rotkohl oder der Christstollen am Nachmittag. Doch auch der Vater wurde langsam ärgerlich. „Wenn du dich nicht bald wie ein normaler Mensch benimmst, werfe ich das ganze Zeug auf die Straße. Richte dich danach.“ - Igor riß sich zusammen und machte höflich Konversation.

Kein Wunder, daß er bis zum Schlafengehen nicht weiter kam. Es verging auch fast der zweite Feiertag, bis er endlich auch die Straße und die Hubschrauber hinter sich lassen konnte. Er überquerte noch einen Parkplatz, wo Gangster aus allen Autos auf ihn schossen. Dann erreichte er eine sichere Halle. Hier erfuhr er das erste Paßwort. Das bedeutete: Kein Testbild mehr! Jeden neuen Versuch durfte er jetzt von dieser Halle aus starten.

Doch die neue Aufgabe übertraf alle voran gegangenen Schrecken. Hilflos betrachtete er die neue Umgebung. Nach einem Waldbrand gab es hier nur verkohlte Baumstämme und verbrannte Erde. Wo sollte er hier bloß Deckung finden? -  Plötzlich, wie aus dem Boden gestampft, erhob sich vor ihm ein Saurier auf seine Hinterbeine. Sein Feuerhauch traf ihn völlig unvorbereitet. Igor landete in der Halle. Dieser Saurier ließ sich nicht besiegen. Mal sch1ugen Flammen aus seinem Maul, dann hackte er mit seinen Krallen zu oder überrannte Igor einfach. Seine Waffen richteten gegen dieses Riesenviech nichts aus. Wenn er den Saurier verwundete, schüttelte der sich bloß. Aus seinen Schuppen wuchsen dann andere Saurier und Flugechsen und erdrückten Igor.

Immer wieder schickten sie ihn zurück in die Halle. Er tauschte seine Waffen gegen einen Schutzanzug. Er besaß ja nur ein Leben. Dann versuchte er eine neue Taktik. Er rannte so schnell er konnte über das verbrannte Land. In der Ferne sah er schon das große Haus. Doch die Echse blieb ihm auf den Fersen. Er hütete sich jedoch, das Biest zu verwunden. Denn er wollte sich nicht immer neue Feinde schaffen. Dafür tauchten plötzlich Moskitos am Himmel auf, groß wie eine Faust. Igor drehte sich um. Die Echse stand genau vor ihm und riss das Maul auf. “Willst du nicht endlich das verdammte Ding abstellen?”

Igors Mutter stand in der Tür und knipste das Licht an. Diese Wirklichkeit verkraftete Igor nicht mehr. Er fuchtelte mit seinem Datenhandschuh in der Luft herum. Die Kabel verhedderten sich. Gleichzeitig sprang Igor hoch, bekam das Übergewicht und stürzte mit seinem Sessel zu Boden. Eine Flamme schoss empor. Es roch nach verbranntem Gummi. Igor schrie...

Als er im Krankenhaus aufwachte, hingen Schläuche von seinem Körper herab. Ein Eisenband umschloß seinen Kopf wie ein Helm.- Für Igor war die Zeit stehengeblieben. Gerade riß der Saurier das Maul auf und sagte mit tiefer Stimme: “Na mein Junge, wie fühlst du dich?” -

Das Untier lachte. Igor fühlte die Krallen an seinem Handgelenk. Mit einem wilden Schrei befreite er seine Hand und sprang aus dem Bett. Die Schläuche zischten durch die Luft. - Ganz nahe sah Igor das rettende Haus. Das Tor stand weit offen. Doch es fehlten die Stufen. Er schwang sich über die Brüstung.

Ehe der Arzt zupacken konnte, fiel Igor aus dem Fenster in die Tiefe.

Aktualisiert ( Freitag, den 14. März 2014 um 12:38 Uhr )