Das Seebegräbnis
Wir haben hier auf unserer Ferieninsel Gran Canaria einen netten Pastor, jung, dynamisch und voller Ideen. Eines Tages suchten ihn zwei Männer auf, offensichtlich Vater und Sohn.
Der Ältere, weit über 70, ergriff nach einigem Zögern das Wort. „Also wir stammen aus Hamburg. Wir kommen schon seit vierzig Jahren auf diese Insel. Vor wenigen Tagen starb nun meine Frau, die Berta. Ich musste ihr in die Hand versprechen, ihr ein Seebegräbnis auszurichten. Eigentlich soll ich ihre Asche ins Meer streuen. - Aber das bringe ich einfach nicht fertig. Es genügt doch sicher, wenn wir die Urne der See übergeben?"
Unser Pastor nickte zerstreut. Das Wort 'Seebegräbnis' faszinierte ihn nämlich sofort. Er liebte nichts mehr, als Planken unter den Füßen zu spüren.
Aber es gab da noch ein paar Fragen. „Kennen Sie denn jemand mit einem Boot?"
„Ja, der Besitzer von unserer Ferienanlage will mit uns auf's Meer fahren."
„Und wo befindet sich die Urne?"
Der Mann sagte eifrig. „Sie steht im Krematorium bereit. Sie muss nur noch abgeholt werden."
Dazu muss man wissen, dass in Spanien die Angehörigen die Urne mitnehmen dürfen. Es ist erlaubt, sie im Garten zu vergraben, auf den Schrank zu stellen oder die Asche irgendwo zu verstreuen.
Kläglich fuhr der Mann fort: „Nur ich fühle mich so pietätlos - mit der Urne unter dem Arm - vielleicht sogar im Bus."
Auch der Sohn wies das weit von sich. „So etwas kann keiner von mir verlangen. Meine Mutter und nur ein bisschen Asche. - Nein! Das schaffe ich nicht."
Unser Pastor überlegte kurz. „Ich weiß Rat. Ich rufe im Krematorium an und lasse mir die Urne ins Haus schicken. Wir machen dann eine nette Trauerfeier und gehen gleich danach an Bord. Regeln Sie das mit dem Bootsbesitzer."
Die Idee gefiel den beiden Besuchern.
So weit, so gut! Die Urne wurde bei unserem Pastor angeliefert. Er betrachtete das Gefäß misstrauisch. Es bestand aus Metall und wog schwer in der Hand. Würde sie im Meer untergehen...?
Wenn nicht gab es bestimmt Ärger mit den Behörden. - Unser Pastor hatte gerade zu der Zeit Besuch von einem Kollegen. Sie beleuchteten das Problem von allen Seiten. Sie erwogen sogar, die Urne zur Probe im Swimmingpool zu versenken. Doch sie ließen es lieber. Sicher würde schon alles gut gehen. Es konnte aber nicht schaden - nur für den Notfall - einen Schraubenzieher einzustecken.
Am nächsten Morgen rief Bertas Ehemann an. Sie einigten sich auf den Termin.
Nur noch eins! - Der Bootsbesitzer meinte, man sollte die Urne besser in einem Beutel transportieren. Schließlich wüsste man nicht, was im Hafen so gesabbelt würde.
Der Tag kam heran. In der kleinen Kirche in Argueneguin fand die richtig familiäre Trauerfeier statt. Danach packte unser Pastor die Urne wieder ein. Dann fuhren alle nach Puerto Rico zum Hafen.
Das kleine, höchstens sechs Meter lange Boot dümpelte am Kai. Der Bootsbesitzer sah den Trauerzug kommen, vorweg unseren Pastor in schwarzer Hose und weißem Hemd, über der Schulter die Tasche mit dem Talar, in der Hand den Beutel mit der Urne. Ihm folgten in grauen Anzügen, mit Hemd und dezenter Krawatte die Leidtragenden.
Der Schipper sagte gleich: „Damit Sie klar sehen. Mit der Kirche habe ich nichts am Hut. Ich konnte es nur dem armen Mann nicht abschlagen."
Sie legten ab. Unser Pastor hatte schon gehört, dass die See heute ziemlich rauh sein sollte. Das bekamen sie auch gleich zu spüren, als sie den schützenden Hafen verließen. Der Wind blies ihnen hart ins Gesicht. Er schob das Boot über hohe Wellenberge, um danach seine Nase tief in die See zu drücken, so dass die weiße Gischt die Insassen übersprühte.
Doch keiner wurde seekrank. -
Der Schipper nicht, weil er es gewohnt war.
Unser Pastor nicht - vor lauter Begeisterung.
Und die Leidtragenden nicht, weil sie - weiß Gott - andere Sorgen hatten.
Ihr kleines Boot stampfte fast eine Stunde gegenan. Hier draußen schien ihnen der Platz recht, Bertas letzten Wunsch zu erfüllen. Der Schipper stellte den Motor ab. Das Boot dümpelte unruhig. Unser Pastor zog seinen Talar über. Kein leichtes Unterfangen bei der rauen See.
Er fand ergreifende Worte und schloss mit dem Satz: „Nun liebe Berta, ruhe in Frieden, dort auf dem Grunde der See, wie du es dir gewünscht hast."
Dann ließ er die Urne ganz langsam über das Heck ins Wasser gleiten.
Alle standen jetzt in dem schwankenden Boot. Sie sahen der Urne nach, die sich immer weiter entfernte. Ganz allmählich begann sie zu sinken. In dem klaren Wasser konnten sie ihren Weg gut verfolgen. - - -
Und dann geschah das Unglaubliche. - Die Männer an Bord trauten ihren Augen nicht. Mit der Leichtigkeit einer Primadonna sprang die Urne zurück an die Oberfläche und tanzte behende über die Wellen.
Alle setzten sich und sahen sich verlegen an.
Als erster faßte der Schipper seine Gedanken in Worte: „Ich sage euch, das gibt Ärger."
Dem alten Mann zitterten die Hände.
Unser Pastor ließ sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. „Nur keine Panik. Wir holen die Urne eben wieder an Bord."
Doch das sagte sich so leicht.
Der Schipper warf den Motor an und versuchte das ‚Mann über Bord' Manöver. Er fuhr in einem eleganten Bogen auf die Urne zu. Doch wenn sie schon zum Greifen nah schien, trieb die eigene Bugwelle das Gefäß in die entgegen gesetzte Richtung davon. Mehrere Meter entfernt hüpfte die Urne auf den Wellen, als wollte sie die Männer necken.
Verbissen versuchte der Schipper das Manöver noch etliche Male. Auf den beiden gegenüber liegenden Bänken im Heck des kleinen Bootes, saßen die vier Männer so beengt, dass ihnen nur wenig Platz blieb, nach der Urne zu greifen.
Plötzlich sprang der schweigsame Sohn auf und griff sich den Rettungsring. Er warf ihn so geschickt über die Urne, dass sie aussah wie Saturn mit seinen Ringen. Mit dem Bootshaken ließ sich alles sicher ganz leicht heranziehen. Aber noch ehe sie zur Tat schreiten konnten, foppten sie Berta und die raue See.
Die Urne tauchte kurz ab und kam neben dem Rettungsring wieder an die Wasseroberfläche. Dann trennten sich die Wege der beiden. - Wieder sahen sich die Männer ratlos an.
Da wurde der Schipper energisch. „Wir müssen das Ding an Bord holen. Sie treibt sonst an den Strand."
Die Leidtragenden zogen sich erneut in die Apathie der Trauer zurück.
Unserem Pastor kam eine Idee. Er zeigte auf die Badetreppe am Heck.
„Einer von uns kann doch ein paar Stufen abwärts klettern... Da lässt sich die Urne leichter greifen. - Aber wer?"
Der Schipper protestierte sofort: „Ich nicht! Einer muss ja auch das Boot steuern."
Die Leitragenden starrten angestrengt auf die Urne im Wasser.
Unser Pastor hatte es gewusst. Es blieb nur einer übrig - er selbst. Er legte also seinen Talar zusammen, zog die schwarze Hose und die Schuhe aus. Es tröstetet ihn, dass ihm mit dem weißen Hemd ein Teil seiner Würde blieb. Vorsichtig stieg er ein paar Stufen die Badetreppe hinab.
Da hing nun unser Pastor, hielt sich mit der einen Hand an der Leiter fest und reckte sich, so weit er konnte. Er gab sein Bestes. - Einige Male gelang es ihm tatsächlich, die Urne zu berühren. Doch sie war rund und das Metall glatt. Seine Finger rutschten ab. Durchgefroren kletterte er nach vielen vergeblichen Versuchen zurück ins Boot.
Bekümmert griff der alte Mann nach seinem Arm. „Meine arme Berta! - Wo sie doch die letzten neun Jahre im Rollstuhl verbracht hat."
Unser Pastor war schon leicht geschafft. Trotzdem sagte er tröstend: „Sie hat es jetzt besser."
Der Mann fragte verzweifelt: „Was sollen wir bloß tun?"
O ja, auf diese Frage wusste unser Pastor eine Antwort. Aber es würde wieder an ihm hängen bleiben.
„Einer muss rein springen."
Er fragte nicht mehr lange, sondern zog auch noch sein schönes weißes Hemd aus. Er wagte sich wieder auf die Badetreppe und sprang todesmutig in die Fluten.
Mit wenigen, kräftigen Zügen erreichte er die Urne, packte sie und ließ sie nicht wieder los. Bald schwamm er längsseits des Bootes. Der Schipper beugte sich über die Reling. Doch just in diesem Augenblick hob eine Welle das Boot in die Höhe - unerreichbar für die Arme mit der Urne.
So trieb die See ihr bitteres Spiel mit den Menschen. Einmal schlingerte das Boot weit über unserem Pastor auf einem Bergrücken aus Wasser. Dann wieder schoss es wie ein Fahrstuhl in die Tiefe und unser Pastor sah hilflos von oben hinein. Er traute sich auch nicht, die Urne einfach pietätlos hineinzuwerfen. So verging die Zeit.
Und dann, als wäre die See des Spiels überdrüssig, geschah, was niemand mehr zu hoffen wagte. Unser Pastor befand sich auf gleicher Höhe mit dem Boot. Der Schipper nahm ihm die Urne ab - einfach so. Richtig glücklich kletterte unser Pastor zurück ins Boot. - Doch schon ergab sich das nächste Problem. Da stand er nun - klitschenaß. Er wollte sich anziehen – aber über die nasse Unterhose? Er dachte an die lange Fahrt zurück zum Hafen.
Zaghaft fragte er die anderen Insassen: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich ganz ausziehe? Die ist so nass?" Er zog an dem Gummi.
Man nickte. Das musste man ihm wohl zugestehen. Doch die nasse Hose vom Leib zu kriegen war nicht einfach. In der rauen See bewegte sich das Boot nach allen Seiten, mal schwerfällig, dann wieder ruckartig - eben völlig unberechenbar. Schlimm für einen Mann, der gerade auf einem Bein jongliert um die nassen Plünnen loszuwerden.
Das Boot holte über, und unser Pastor auch. Er fiel nämlich genau in die Arme seiner Gegenüber. Welch peinliche Situation! Man stelle sich vor, ein nackigter Pastor belästigt die Leidtragenden.
Die versuchten unbeteiligt auszusehen und schoben ihn zurück auf seinen Sitz. Sie sahen hinaus auf's Meer, während unser Pastor - immer noch gegen die Bewegungen des Bootes kämpfend - sich in Hemd, Hose und die Schuhe quälte.
Berta war endlich wieder an Bord. Doch damit begann alles von vorn. Die einfachste Lösung schien, Berta wieder mit an Land zu nehmen und dort zu bestatten. Das lehnten die Leidtragenden energisch ab. Einfach umkehren, nach den vielen Aufregungen? Und wo Berta sich doch so ein Seebegräbnis gewünscht hatte? Nein!
Unser Pastor sagte energisch: „Dann gibt es eben nur eins. Wir müssen die Urne aufmachen."
Es erfolgte kein Widerspruch. Zum Glück befand sich der Schraubenzieher an Bord. Der Deckel der Urne ließ sich leicht abschrauben. Bis auf eine kleine Blechbüchse war die Urne leer. Sie zu öffnen bereitete ebenfalls keine große Mühe. Die Asche darin bedeckte knapp den Boden.
Unser Pastor wandte sich an Vater und Sohn: „Das ist des Rätsels Lösung. Diese Hohlräume hinderten die Urne am Sinken. Wir haben jetzt die Wahl, entweder wir füllen sie an Bord mit Wasser, oder wir übergeben sie so dem Meer."
Die Leidtragenden entschieden sich für die zweite Mög1ichkeit.
Unser Pastor verzichtete darauf, noch einmal den Talar überzuziehen. Die letzte Stunde hatte ihn gelehrt, dass nicht die Kleidung das Amt ausmacht.
Er nahm die Urne und sprach die Abschiedsworte: „Und jetzt ruhe in Frieden in dem Element, das du dir als letzte Ruhestätte gewünscht hast."
Und so verließ Berta zum zweiten Mal das Boot. Die Urne blieb ein wenig zurück und begann zu sinken. Eine feine Spur grauer Asche zeichnete ihren Weg nach. Und so wurde Bertas Asche tatsächlich ins Meer gestreut, genau wie sie es sich gewünscht hatte.
Vater und Sohn nahmen einen Strauß Rosen und warfen ihn über Bord. Die Blumen trieben auseinander. Und die Abendsonne hüllte alles in ein versöhnliches Licht.
Sie fuhren mit dem Boot noch eine Abschiedsrunde um Bertas letzte Ruhestätte und tuckerten dann langsam zurück zum Hafen. Der Schipper war wohl froh, dass alles vorüber war und verabschiedete hastig seine Gäste.
Als sie zum Wagen gingen, nahm der Sohn unseren Pastor bei Seite.
Hinter der vorgehaltenen Hand bekam er seinen Satz kaum über die Lippen. „Ehrlich, wenn die Sache nicht so traurig wäre, ich könnte mich totlachen."
Aktualisiert ( Mittwoch, den 15. September 2010 um 12:55 Uhr )