Suleikas Tanz

Immer wieder passieren Morde, die nie aufgeklärt werden. Doch manchmal geschehen Dinge, die uns glauben machen, dass eine zornige Faust einen besonders üblen Verbrecher auf der Stelle zermalmt. So war es wohl auch in dem folgenden Fall.

Der Mann verspürte wieder diese Unruhe. Sie quälte ihn in der letzten Zeit immer häufiger. Er zog seinen Mantel an und verließ das Haus. Draußen regnete es, kein Wetter für einen längeren Spaziergang. Er schlug den Mantelkragen hoch. Die Straße glänzte vor Nässe. Die Autos spritzten Fontänen gegen seine Beine. - Es ging schon gegen Mitternacht. Die Häuser in dieser Gegend sahen nicht besonders einladend aus. Gegenüber lockte eine Neonreklame. Ein Schaukasten zeigte Fotos der Damen, die in diesem Etablissement auftraten.

Den Türsteher hatte wohl der Regen verscheucht. So kam er unbehelligt bis zu der improvisierten Garderobe und gab den nassen Mantel ab. Ein beflissener Kellner führte den Fremden an einen Tisch nahe der Bühne. Trotz des schlechten Wetters befanden sich mehrere Gäste in dem intim beleuchteten Raum. Es dauerte nicht lange und eine dieser auffällig geschminkten Damen kam an seinen Tisch. "Spendierst du mir einen Drink, Süßer?"

Großzügige Freier bestellten Champagner. Aber für den Anfang durfte sie mit ihrem Cocktail zufrieden sein. Sie plapperte unentwegt. „Ich heiße Lola. Den Namen habe ich mir selbst ausgesucht. Findest du, dass er zu mir passt?"

Jetzt wurde die Bühne angestrahlt. Eine kühle langbeinige Blondine kam bis an die Rampe. Zu einer leisen Melodie begann sie, sich sehr langsam zu entblättern. Sie hielt ihren Tanz wohl für aufreizend. Doch die Show ließ die Gäste so kalt wie ihr eingefrorenes Lächeln. Für Sekunden sah man ihren makellosen Körper.

Das Licht auf der Bühne erlosch. Lola klärte ihren Freier auf: „Sie heißt Inga. Sie hält sich für etwas Besseres. Dabei klatscht doch kaum jemand. - Aber die nächste Nummer wird dir gefallen. Das Mädchen nennt sich Suleika. Sie tanzt mit einer Schlange."

Der Fremde hörte ihr nur mit einem halben Ohr zu. Seine eigenen Probleme beschäftigten ihn mehr als genug.

Endlich ging das Licht im Zuschauerraum wieder aus. Sanfte Farben erhellten die Bühne und weckten zusammen mit der orientalischen Musik vergessene Träume. Zwei Männer in Pluderhosen und mit Fez schleppten einen großen Korb ins Rampenlicht. - Dann erschien Suleika. Das flammend rote Haar reichte ihr bis zur Taille. Sie trug ein kurzes Oberteil und eine weite Hose aus Seide, die den Nabel frei ließ. Viele goldene Ketten, Fransen und Glöckchen tönten leise. Zu der fremdartigen Musik tanzte Suleika mit weichen Bewegungen über die Bühne. Unmerklich steigerte sich das Tempo. Ihre Hände züngelten empor wie Schlangen, ihr Leib bewegte sich immer schneller. Die Musik endete mit einem Trommelwirbel.

Suleika griff nach einer Flöte und entlockte ihr hohe aufreizende Töne. Niemand der Anwesenden wagte zu atmen.

Wer sah sie zuerst? - Ganz langsam hob sich der Deckel des großen Korbes und fiel zur Seite. Der Kopf einer Schlange schob sich in die Höhe, dann ein Teil ihres Körpers. Sie wiegte sich mit der fremden Melodie. Dann neigte sie ihren Kopf hinunter zum Boden, glitt aus dem Korb und folgte mit schnellen Windungen den weichen Schritten der Tänzerin. Jetzt erst bemerkten die Gäste, dass die Boa Constrictor mehr als vier Meter lang sein musste.

Suleika gab die Flöte einem der Männer im Hintergrund. Die Musik setzte wieder ein. Jetzt hob das Mädchen die Schlange hoch und legte sie sich um ihren Nacken. Das Reptil ringelte sich um ihre Arme und sein Kopf schob sich auf Suleikas Hand. Der Tanz des Mädchens mit der Schlange weckte die Illusion, als vereinigten sich die beiden Körper.

Plötzlich ließ Suleika die Schlange in den Korb gleiten. Das Licht erstarb. Rasender Applaus folgte der Darbietung.

Der Fremde atmete schwer. Er konnte kaum seine Erregung verbergen. Er zerrte an Lolas Arm. „Los, sag schon, wo hat das Mädchen seine Garderobe?"

„Lola meinte gelangweilt: „Ich kenne sie nicht weiter. Sie ist neu hier."

Er schob einen Hunderter über den Tisch und drängte: „Raus mit der Sprache! Wo finde ich sie?"

Lola griff nach dem Schein. Sie fühlte sich gekränkt. „Sie wohnt auf Nummer 13. Was willst du von der? Die kann das auch nicht besser als ich."

Der Fremde achtete nicht weiter auf ihre Worte. Er bestellte für sich und Lola noch einen Drink. Nervös wartete er auf das Ende der nächsten Show. Dann empfahl er sich.

Jemand klopfte an Suleikas Zimmertür. Als Star durfte sie nämlich hier im Haus wohnen. Eine Stimme flüsterte: „Mach auf, wir haben etwas zu besprechen."

Sie meinte den Tonfall des Direktors zu erkennen und öffnete. - Ein Fremder stand plötzlich im Zimmer. Eine Messerklinge blitzte im Lampenlicht. Er schob mit dem Fuß die Tür zu und zischte: „Wenn du schreist, stoße ich zu."“

Suleika zitterte vor Angst. Wer sagte ihr, dass dieser Mann sie nicht auf jeden Fall töten würde? Sie öffnete den Mund.

Der Fremde hielt Wort. Er stieß sofort zu - noch einmal und immer wieder. Ihr Schrei glich nur noch einem Flüstern. Der Mann riss ihr die Kleider vom Leibe und warf sie auf das Bett.

Als Suleika am nächsten Morgen nicht zum Frühstück erschien, wurde das Personal unruhig. Man lief zu ihrem Zimmer, rüttelte an der Tür und rief ihren Namen. Doch sie meldete sich nicht. Die Polizei kam und brach die Tür auf.

Schaudernd wichen alle zurück. Auf dem Bett lag nackt und blutbesudelt das Mädchen. Sie war tot.

Nur ein paar Schritte von ihr entfernt lag ein seltsam verrenkter Männerkörper auf dem Boden. Er glich einer Stoffpuppe ohne Knochen und Gelenke - von einem Kind achtlos fortgeworfen. Seine toten Augen starrten immer noch in blankem Entsetzen gegen die Zimmerdecke.

Der Direktor des Unternehmens ging unsicher zu dem großen Korb in der Ecke. Der Deckel lag daneben auf dem Boden. Er warf einen Blick hinein. Friedlich zusammengerollt schien die Schlange zu schlafen.“

Gisela Seeger-Ays

Aktualisiert ( Donnerstag, den 31. Oktober 2013 um 18:29 Uhr )