Träume sind Schäume
Egon träumte selten und wenn - konnte er sich später nicht daran erinnern.
Doch in dieser Nacht war es anders. Er wachte von seinem eigenen Schrei auf. Schweißgebadet saß er aufrecht in seinem Bett.
Seine Frau Anna knipste schon das Licht an und fragte besorgt: „Was ist los? Hast du schlecht geträumt?"
Egon schüttelte sich, als könnte er so die grässlichen Bilder los werden. „Ja, und ich erinnere mich an jede Einzelheit. - Ich könnte schwören, es wäre alles wirklich so passiert.”
Er wischte sich über die Augen und erzählte seinen Traum wie unter einem Zwang. „Ich fuhr in einem völlig fremden Wagen durch ein Gebirge. Neben mir saß eine unbekannte Frau. Es wurde schnell dunkel. Ich konnte die schmale Straße kaum noch ausmachen. - Zu allem Überfluss begann es zu regnen. Aus
den Tälern stieg dichter Nebel auf. Die Sicht wurde immer schlechter.
Wir fuhren durch einen unbeleuchteten Tunnel. Danach warnte ein Schild vor einer gefährlichen Kurve. Nach dem zweiten Tunnel ging es in einer langen gestreckten Kurve steil bergab.
Schon von weitem sah ich die Brücke.
Ohne jede Vorwarnung sahen wir in einen grauenhaften Höllenschlund.
Die Brücke zerbarst vor unseren Augen. Mit unvorstellbarem Lärm verschwand sie in der Tiefe. Eisenträger flogen durch die Luft. Es regnete Sand und Steine.
Ich konnte den Wagen nicht mehr bremsen. Wir rasten direkt in das Nichts. Wie ein Spielzeug wirbelte das Auto durch die Luft und fiel dann wie ein Stein mit uns in den Abgrund ...”
Anna umarmte ihn und sagte beruhigend: „Es war nur ein Traum! Sicher lag dir nur das reichliche Abendessen auf dem Magen. - Soll ich dir einen Tee machen?"
Egon lächelte gequält, „Lass nur, es geht schon wieder.”
Anna löschte das Licht. Egon schlief sofort wieder ein. Am nächsten Morgen hatte er den Traum vergessen.
Die üblichen Alltagssorgen bestimmten wieder Egons und Annas Leben. - Wie ließ sich das immer zu knappe Haushaltsgeld strecken? Oder wie sollten sie die Probleme der Kinder in der Schule lösen?
Egons Beruf als Handelsvertreter erlaubte ihm nur selten, sich um seine Familie zu kümmern. So dass Anna oft nicht wusste, wo ihr der Kopf stand.
Eines Tages musste Egon bei seinem Chef antreten. Doch der betrachtete ihn überraschend freundlich.
„Da liegt eine Anfrage aus dem Ausland vor. Ein neuer Kunde - anscheinend ein schwieriger Fall. Sie sind genau der richtige Mann für diesen Job. Wenn Sie es wünschen, besorgen wir Ihnen ein Flugticket.”
Egon winkte ab. „Danke nein, es wird Zeit, dass ich meinen neuen Dienstwagen teste. Ein paar Kilometer mehr nehme ich gern in Kauf. Dafür bin ich dann auch vor Ort mobil.”
Anna packte seine Sachen. Was blieb ihr anders übrig. Egon verabschiedete sich herzlich und machte sich auf den Weg. Wenn es ihm gelang, diesen Abschluss unter Dach und Fach zu bringen, winkte ihm eine saftige Prämie. -
Die Kilometer verschwanden unter den Reifen des nagelneuen Autos. Die Ebenen wichen flachen Hügelketten. Berge tauchten am Horizont auf. Egon verließ die Autobahn. Eine gute Straße führte ihn immer höher hinauf ins Gebirge. Zwar kannte er die Strecke nicht, doch er besaß eine gute Karte.
Gegen Mittag hielt er bei einem Dorfgasthof und aß dort gut und reichlich. Der Wirt erkundigte sich nach dem Woher und Wohin. Er erzählte auch, dass - laut Wetterbericht - am nächsten Tag ein Unwetter aufziehen sollte.
Diese Nachricht beunruhigte Egon. Er beschloss, sofort aufzubrechen. Er wollte gerade gehen, da sprach ihn eine Frau an. Sie kam ihm bekannt vor, aber er wusste nicht woher.
Sie sagte verlegen: „Ich hörte Ihr Gespräch mit dem Wirt. Ich habe meinen Bus verpasst. Und der nächste geht erst über morgen. Würden Sie mich in Ihrem Wagen mitnehmen?"
Egon sah den Wirt fragend an.
Der nickte. „Frau Hansen besuchte hier ihre Schwester. Der Bus kam heute früher als sonst.”
Die Frau erklärte noch: „Man erwartet mich zu Hause.”
Egon konnte schlecht ablehnen. - Sie stiegen also ein und fuhren los. Der neue Wagen nahm jede Steigung ohne Schwierigkeit. Ihr Gespräch plätscherte so dahin.
Am Spätnachmittag begann es zu regnen - sicher die Vorboten des angekündigten Unwetters. Aus der Dämmerung tauchten die engen Kurven an den Berghängen so spät auf, dass Egon jetzt seine ganze Aufmerksamkeit brauchte. - Nebel kroch über die Straße.
Ein fremdes Unbehagen füllte Egons Magen. Die Straße und die Berge weckten Erinnerungen in ihm. Dabei konnte er schwören, dass ihm diese Gegend völlig unbekannt war. Die Dunkelheit eines Tunnels hüllte sie ein. Danach warnte ein Schild vor einer gefährlichen Kurve. Angst überflutete Egons ganzen Körper - Er schalt sich einen Narren. Er fuhr doch vorsichtig. Was sollte da schon passieren?
Als sie den zweiten Tunnel verließen, sah er hinüber zu seiner Begleiterin. Sie schien an etwas Nettes zu denken, denn sie lächelte. Warum spürte sie nichts? Ihm krampfte sich wie- der sein Magen zusammen. Seine Hände zitterten.
„Jetzt kommt gleich die Brücke."
Hatte er laut gesprochen? Nein, die fremde Frau saß immer noch ganz entspannt neben ihm. - Die Straße führte stetig bergab. -
Plötzlich traf ihn die Wahrheit wie ein Schlag ins Gesicht. Der Schrecken zerrte seinen Fuß vom Gaspedal.
Der Traum! - Diese unheimliche Strecke fuhr er nicht zum ersten Mal.
Deshalb kam ihm diese fremde Frau im Gasthof gleich bekannt vor.
Und der fremde Wagen? Als er damals träumte, besaß er ihn noch nicht. Er konnte ihn gar nicht kennen!
Aber Träume werden doch nicht wahr? Nicht nach so langer Zeit?
Er bremste, schaltete das Warnlicht ein. Seine Stimme klang rauh. „Ich gehe ein paar Schritte voraus.”
Er sah schon das Geländer der Brücke. Er lief darauf zu. Doch seine Füße versagten ihm plötzlich den Dienst.
Die Brücke gab es nicht mehr. Nur das Geländer ragte noch mehrere Meter ins Ungewisse. -
Eine braune Schlammlawine wälzte sich von dem gegenüber liegenden Berg in die Tiefe.
Egon bemerkte nicht die schweren Regentropfen, die ihn bis auf die Haut durchnässten. Er starrte nur auf die zähe braune Masse und die Trümmer der Brücke, die noch vor kurzem hier über den tiefen Abgrund führte.
Hätte er nicht vor Wochen alles schon einmal im Traum erlebt, er hätte die Gefahr nicht rechtzeitig genug erkannt.
Ohne diese Warnung aus einer ihm fremden Welt, läge er jetzt da unten unter dem Schlamm begraben - und mit ihm diese fremde Frau.-
Aktualisiert ( Samstag, den 15. Oktober 2011 um 11:13 Uhr )