Chips
Gregor ging in die kleine Kneipe gegenüber. Gerade wollte er sich auf einen Hocker schwingen und ein kühles Bier bestellen, da bemerkte er den Fremden an einem der Tische. Gregor fiel sofort seine verkrampfte Haltung auf. Steif und hölzern saß er da, als hätte er Angst, vom Stuhl zu fallen.- Jetzt winkte der Mann. Gregor war nicht ungefällig und ging hinüber zu ihm. Der Fremde zeigte auf einen Stuhl an seinem Tisch. „Bitte, setzen Sie sich. Was darf ich Ihnen bestellen - Kaffee oder Bier?“
„Bier,“ sagte Gregor.Der Fremde lächelte. „Ich möchte Sie um etwas bitten.“
Er nestelte an seinem Gürtel, an dem vier braune Ledertäschchen hingen. Aus einem zog er ein kleines Gerät. Er öffnete es und gab Gregor die Batterie. „Bitte kaufen Sie für mich da hinten im Elektrogeschäft eine neue. Ich schaffe es nicht mehr bis dahin.“
Er schob einen Hundertmarkschein über den Tisch. Gregor machte sich auf den Weg.
Der junge Mann in dem Elektroladen betrachtete das flache sechseckige Ding von allen Seiten und schüttelte den Kopf. „So etwas habe ich noch nie gesehen. Da muss ich den Chef fragen.
Der stattliche Mittfünfziger kam eilig in den Verkaufsraum und blieb schnaufend vor Gregor stehen. "Seltsam, erst vor wenigen Tagen hat mir ein Vertreter eine ganze Serie davon aufgeschwatzt. Er wollte mir aber nicht sagen, wofür die Dinger gut sind.“
Er sah Gregor scharf an. „Raus mit der Sprache! - Wozu brauchen Sie die Batterie?"
„Keine Ahnung! Ein Fremder bat mich, sie zu besorgen.“
Der Ladenbesitzer sagte enttäuscht: „Die Sache will mir nicht in den Kopf. - Übrigens, ich kriege fünfzig Mark."
Gregor zog den Schein heraus, zahlte und eilte zurück in das Lokal. Er gab dem Fremden die Batterie und das restliche Geld und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier.
Der Fremde praktizierte schon das kostbare Stück Plastik in das kleine Gerät und das Gerät in die Tasche am Gürtel.
Was dann geschah, konnte man kaum glauben. Plötzlich saß vor Gregor ein völlig veränderter Mann. Unverkrampft, ja geradezu 1ässig 1ehnte er sich in seinem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander.
Der Fremde freute sich über Gregors Verblüffung. „Da staunen Sie, was? Dabei ist alles ganz einfach zu erklären. Vor Jahren überschlug ich mich mit meinem Auto und blieb querschnittgelähmt. Aber heutzutage vollbringt die Medizin ja Wunder. Man pflanzte mir einen Chip in die Wirbelsäule. Seitdem kann ich wieder laufen. Aber dazu brauche ich diesen kleinen Computer. Und der braucht Batterien."
Gregor war beeindruckt. „Das ist ja fantastisch. Wenn das so weiter geht, gibt es bald keine Behinderten mehr. Welche Zukunftsaussichten!"
Doch der Fremde verlor bald das Interesse an dem Gespräch. Er sah gelangweilt zu, wie der Wirt hinter dem Tresen seine Gläser polierte. Gregor zog ihn am Ärmel. Der Fremde sah ihn verständnislos an. Nur langsam nahm er ihn wieder wahr. Er kramte in seiner Jackentasche, förderte Papier und Kugelschreiber zu Tage. Er kritzelte ein paar Sätze. ‚Tut mir leid, mir ist wieder eine Batterie verreckt. Bei dem Unfall verlor ich auch mein Gehör. Dadurch hapert es mit der Sprache. - Sind Sie noch einmal so freundlich?‘
Dieses Mal öffnete er ein anderes Täschchen an seinem Gürtel. Der Computer daraus sah dem ersten sehr ähnlich. Doch die Batterie war dieses Mal rund. Gregor nahm Batterie und Geld und verließ das Lokal.
Der Chef des Elektroladens sah ihm erstaunt entgegen. „Nun sagen Sie nur, Sie brauchen schon wieder so ein Ding?"
Gregor nickte und legte die runde Batterie auf die G1asplatte. „Ja. und wieder für diesen Fremden. - Damit kann er wieder hören, sagt er."
Diese Auskunft schien den Ladenbesitzer etwas zu beruhigen. „Das wäre eine einfache Erklärung, so ein supermodernes Hörgerät."
Gregor verließ den Laden so schnell wie möglich. Jetzt spürte er diese Unsicherheit. Der Fremde sah ja aus wie ein Mensch. Aber konnte er nicht genau so gut ein Roboter sein? Dann brauchte er auf jeden Fall Computer und Batterien. Und wenn er von einem anderen Stern kam? Von Alpha Centauri oder der Wega? Vielleicht gehörte er zu solchen Monstern, die wie Menschen aussahen, und sich später als Reptilien entpuppten? Nein, jetzt spielte ihm seine Fantasie einen Streich. Sicher stimmte alles, was der Mann sagte.
Der Fremde nahm dankbar die Batterie und beförderte sie zurück in den Computer. Sofort erwachte sein Gesicht aus der ungewollten Trägheit. Lebhaft erklärte er: „Der Unfall damals hätte für mich ohne die Ärzte das ‚Aus‘ bedeutet. Sie operierten mir einen weiteren Chip ins Mittelohr. Erstaunlich, welche Klangfülle ich bei einem Konzert mit dem Computer einstellen kann."
Das hörte sich wirklich ganz harmlos an. Doch in Gregor blieb ein Unbehagen. Er fragte verlegen: „Sie besitzen vier solche Ledertaschen. Was steckt in den anderen?"
Der Fremde tippte auf die dritte. „Darin befindet sich ein Weltempfänger. Damit höre ich die Nachrichten der entferntesten Sendestationen."
Gregor fror. Vielleicht Anweisungen vom Herrscher einer fremden Welt? Zaghaft deutete er auf die letzte Tasche.
Der Fremde sagte stolz: „Darin arbeitet auch ein Computer. - Man operierte mir noch einen Chip ins Gehirn."
Gregor wurde schlecht. Was passierte, wenn diese Batterie ausfiel? Welche Schrecken kamen dann auf ihn zu?
Er sprang auf und rannte los.
Er hörte nicht mehr den Anderen rufen: „Seien Sie vorsichtig! Seien Sie vorsichtig!"
Wie gehetzt lief er auf die Straße.
Als er diesem wild hupenden stählernen Ungetüm nicht mehr ausweichen konnte, schreckte ihn das Bi1d einer grauenhaften Zukunft. - Statt des Fremden saß jetzt er an dem Tisch in diesem Lokal. Jetzt trug er den Gürtel mit den vier Ledertäschchen. Und in jedem steckte ein Computer.
Gisela Seeger-Ays
Aktualisiert ( Donnerstag, den 02. Juni 2011 um 12:50 Uhr )