Die Fahrt nach Helgoland
Ende der sechziger Jahre kam Georgs Binnenschiffsfirma so richtig in Schwung. Die Schiffe fuhren hauptsächlich nach Berlin, aber auch zum Mittellandkanal und zum Rhein.
Neben Zeitungsdruckpapier in Rollen und Lebensmittel für die Einfuhr- und Vorratsstelle beförderten die Schiffe vor allem Kupfer nach Berlin und zurück. In Berlin wurde das Kupfer - wie es hieß - veredelt. In Wahrheit bestand die ganze Veredelung nur darin, die Kupferplatten oder Zigarren einmal durchzusägen. Dafür gab es dann Berlinhilfe. Die war so reichlich bemessen, dass alle Beteiligten gut davon leben konnten.
Eines Tages kam der Spediteur, der das großartige Geschäft angeleiert hatte, mit einem Anliegen zu Georg.
Wichtig erklärte er: “Ich muss meiner Kundschaft mal wieder etwas bieten. Die Barkassentour auf der Unterelbe vor zwei Jahren fand ja allgemein Anklang. Aber dieses Mal sollte unser Ausflug die Fahrt noch übertreffen. Organisieren Sie das. Ich verlasse mich auf Sie.”
Er erwähnte noch, dass er sich nicht lumpen lassen würde und ging.
Georg beriet sich mit Julia. Sie waren sich sofort einig. Da kam nur Helgoland in Frage.
Sie kannten die kleine Insel in der Nordsee von ihren Urlaubsreisen. Vor allem liebten sie dort die ruhigen Tage über Sylvester, wenn die großen Bäderschiffe in den Heimathäfen ihren Winterschlaf hielten. Dann fuhr nämlich nur noch Cassen Eils mit seiner Atlantis - und direkt in den Hafen.
Den rief Georg jetzt an und fragte, ob man sein Schiff auch chartern könnte. Cassen Eils brummelte hocherfreut sein ‚Ja‘. Denn jetzt im Herbst war sein Schiff nur noch selten ausge- bucht. Er machte einen guten Preis, so dass sie schnell handelseinig wurden.
Die Vorbereitungen nahmen viel Zeit in Anspruch. Doch sie schafften natürlich alles bis zu dem wichtigen Tag.
Am Morgen startete ein Bus von Köln und einer von Hamburg Richtung Cuxhaven. Mit Bombenstimmung gingen dort alle an Bord.
Doch Kapitän Eils winkte Georg zu sich und zog ihn in seine Kammer. “Sieht draußen schlecht aus - Windstärke 6 in Böen 7 und das aus Südwest,” sagte er düster. “Bin nicht sicher, ob wir auslaufen können.”
Georg fragte besorgt: “Wegen der Atlantis?”
Cassen Eils war beleidigt: “Unsinn, die kann auch einen Orkan vertragen. Aber die Leute?”
Georg holte den Spediteur. Das wollte er nicht allein entscheiden. Der regte sich sofort auf. “Wie denken Sie sich das? Soll ich die Leute vielleicht so wieder nach Hause schicken? Oder trauen Sie sich nicht?”
Der kleine, pummelige Kapitän wurde puterrot im Gesicht. “Es geht mir nur um die Passagiere. - Gut! - Legen wir ab! - Aber Sie tragen die Verantwortung.”
Doch man soll ja nichts überstürzen. Sie beschlossen also, das kalte Buffet vor der Abfahrt zu eröffnen. Die Gäste hatten doch ein Recht darauf, die delikaten Speisen in Ruhe zu genießen.
Die Kapelle baute ihre Instrumente auf und legte los. Alle waren überzeugt, diese Fahrt würde ein unvergessliches Erlebnis werden. - Und damit sollten sie auch recht behalten.
Nach dem Essen sammelte die Crew das Geschirr ein. Bier und Sekt wurde nur noch in Flaschen ausgegeben.
Das Schiff legte ab und steuerte aus der Elbmündung in die offene See. Hier erwischte sie das raue Wetter mit Macht. Die Atlantis stampfte schwerfällig gegenan und steckte ihre Nase tief in das aufgewühlte Wasser. Dazu fegte der Wind von Südwest heran und traf die Atlantis hart von backbord.
Die Gäste wurden stiller und sahen sich unruhig um.Julia wusste von früher, dass Beschäftigung fabelhaft gegen Seekrankheit hilft. So besorgte sie die bekannten Tüten und verteilte sie an diejenigen, deren Gesichter sich langsam grün färbten. Sie redete ihnen gut zu und brachte sie zur Reling auf der windabgewandten Seite. Dort trafen sich schon bald viele seeuntaugliche Typen.
Die Kapelle hielt das wohl für witzig und spielte immer wieder ‘Ach wärst du doch in Düsseldorf geblieben’. Doch irgendwann konnten sie ihre Instrumente nicht mehr halten und gaben auf. Vielleicht fühlten sie sich ja auch nicht mehr so fit.
Natürlich gab es auch einen harten Kern, dem das bisschen Schaukeln nichts ausmachte. Diese tollen Kerle hockten im Salon, hielten sich an ihren Bier- oder Sektflaschen fest und erzählten sich gegenseitig die unglaublichsten, garantiert wahren Erlebnisse.
Georg gehörte auch dazu und verkündete dauernd: “Was so ein richtiger Hartsäufer ist, der wird nie seekrank!”
Der Kapitän wollte wohl von dem miesen Wetter ablenken. Er ging herum und gab Döntjes zum Besten. Gerade widmete er sich einer Gruppe Frauen. “Ich will euch was verraten. Es gibt nur ein sicheres Mittel gegen Seekrankheit - die Pille. Guckt euch nur die jungen Mädchen da drüben an. Denen geht es prima. - Aber nicht weitersagen!”
Auch auf ängstliche Fragen wusste er immer eine tröstende Antwort. “Tja, man kann ja nie wissen. Vielleicht kriegt unsere alte Atlantis doch mal das Übergewicht. Aber dann haben wir ja unser Rettungsboot.”
Prompt kam die besorgte Frage. “Passen wir denn da alle rein?”
Cassen Eils grinste verschmitzt. “Das Boot reicht gerade mal für die Besatzung. Für euch montieren wir die Bänke ab und werfen sie über Bord. Wenn ihr dann an unserem Boot vorbeitreibt, kriegt ihr einen ordentlichen Schluck Rum aus der Buddel.”
Er lachte dröhnend und ging schon zur nächsten Gruppe. Die Gäste glaubten ernsthaft, er wäre gar kein echter Kapitän, sondern vom Fernsehen engagiert.
Julia hatte ihre Schwester Inge mit deren Mann Willi eingeladen. Willi sträubte sich zunächst. Denn nach einer Operation am Ohr litt er unter Problemen mit dem Gleichgewichtsinn. Sogar im Flugzeug wurde ihm schon schlecht. Doch diese Fahrt stellte alles auf den Kopf. Es erwischte nämlich Inge. Sie spuckte und würgte fast ohne Unterbrechung. Willi hatte alle Hände voll zu tun, sie festzuhalten und sie von der Reling runter zur Toilette und zurück zu bugsieren. Er war so im Stress, dass ihm keine Zeit blieb, selbst seekrank zu werden.
Der Wind frischte noch auf. Die guten Kunden jammerten dem Spediteur und Georg die Ohren voll. Manch einer fürchtete wohl auch, sein letztes Stündchen hätte geschlagen. Also ging der Spediteur zum Kapitän und ließ seinen Ärger und seine Ängste raus. “Diese Schreckensfahrt kann ich meinen Kunden nicht länger zumuten. Ich verlange, dass Sie auf der Stelle umdrehen!”
Cassen Eils konnte ein Grinsen nicht verkneifen. “Aber bester Mann, das ist doch nicht Ihr Ernst. Es dauert höchstens noch eine halbe Stunde. Da vorne können Sie schon die Insel sehen.”
Und wirklich wuchs, wenn auch noch undeutlich, am Horizont der Felsen aus dem Meer. Schnell sprach sich die gute Nachricht herum. Seltsamerweise fühlten sich die meisten gleich wohler, obwohl sich das Stampfen und Schlingern kein bisschen gebessert hatte.
Auf der Reede lagen nur zwei kleinere Bäderschiffe. Die anderen wurden längst in ihren Winterquartieren überholt.
Die Atlantis fuhr ziemlich nahe an die steinerne Landungsbrücke heran. Die Bördeboote holten die Gäste vom Schiff und brachten sie zu den Steintreppen, die bis ins Wasser reichten. Man kennt ja das Motto der Inselbewohner: Ausbooten - ausbeuten - einbooten!
Erleichtert eilten jetzt alle über die Landungsbrücke auf die Hauptstraße und in die verschiedenen Lokale.
Julia kümmerte sich um einen herzkranken Mann, der keinen Fuß mehr auf ein Schiff setzen wollte. Sie besorgte ihm ein Nachtquartier und für den nächsten Tag ein Flugticket. Der Mann konnte ja nicht wissen, dass der Flugplatz auf der Badedüne lag. Einer zweiten Insel, die man nur mit einem Boot erreichen konnte. Von dort flog eine alte Ju 52 oder eine Twin Otter nach Hamburg.
Danach stieg Julia die vielen Stufen hinauf zum Oberland. Sie folgte dem kleinen Rundweg an den schroffen Klippen entlang. Im Norden stand damals noch die unversehrte ‘lange Anna’. Der steil aufragende einzelne Felsen versuchte in den letzten Jahren vergeblich, der See und den Stürmen zu trotzen. Er ragt heute nicht mehr ganz so hoch in den Himmel. Im Osten lag ein breites Vorland - der Sickerboden - und nur durch eine Meerenge getrennt die Badedüne.
Dieses Mal benutzte Julia den Fahrstuhl um wieder ins Unterland zu gelangen. Sie schlenderte durch die Straßen und betrachtete neugierig die zollfreien Angebote.
Sie kaufte ein Buch über die Insel. Sie wollte noch einmal nachlesen, wie es war, als die Engländer nach dem Krieg die Insel als Bombenziel benutzten und sogar - zum Glück vergeblich - versuchten, ganz Helgoland in die Luft zu sprengen.
Erst 1951 gelang es zwei Studenten zwischen den Angriffswellen auf der Insel die deutsche Flagge zu hissen. Danach gab es Verhandlungen und Helgoland kam wieder frei.
Ziemlich geschafft erholte sich Julia in einer Teestube, wo schon viele ihrer Gruppe saßen.
Pünktlich zur Abfahrt fanden sich alle auf der Landungsbrücke ein. Die Zollbeamten guckten in alle Tüten und Taschen, um den Leuten das Schmuggeln zu vermiesen.
Cassen Eils begrüßte sie lachend. “Der Wind hat nachgelassen. Es wird eine ruhige Fahrt nach Cuxhaven. Es geht ja auch nicht mehr gegenan.”
Und er sollte recht behalten.
Seekrankheit? Darüber konnten die Leute nur lachen. Vielleicht auch der Apotheker auf Helgoland, der gutmütig die Pille ohne Rezept verkaufte.
Das Grünkohlessen war jetzt genau das Richtige für die leeren Mägen - und eine gute Unterlage für die scharfen Getränke.
Die Kapelle packte ihre Instrumente aus und spielte heiße Musik. Manche schwangen sogar das Tanzbein.
Müde und auch froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, bestiegen die Teilnehmer nach dieser turbulenten Seereise die Busse...
Am nächsten Tag machte der Spediteur Georg schwere Vorwürfe: “Sie hätten wissen müssen, was uns auf so einer Fahrt erwartet. Wie konnten Sie das überhaupt vorschlagen? Wenn wir nun alle abgesoffen wären?
Und wie stehe ich jetzt da? Was soll ich bloß meinen Kunden sagen? Sicher wird es massenhaft Beschwerdebriefe hageln.”
Die kamen auch - und nicht zu knapp! - Bloß nicht von den Teilnehmern dieser aufregenden Seereise. Sondern von Leuten, die man vergessen hatte einzuladen.
Sie waren zutiefst enttäuscht, dass sie an diesem einmaligen Ausflug nicht teilnehmen durften.
Gisela Seeger-Ays