Tot und begraben?

 

Ich wohnte noch nicht lange in dieser Gegend. Doch die gemütliche Kneipe an der Ecke hatte ich schon am ersten Tag entdeckt. Dort hockte ich oft nach Feierabend, trank mein Bier und aß auch manchmal eine Kleinigkeit.

Bald fiel mir ein hagerer Mann auf, der immer allein an seinem Tisch saß und in sein Glas starrte. Er unterhielt sich nie. Wenn einer der Gäste ihm ein Bier ausgab, verzog er keine Miene, sondern nickte nur kurz in die Richtung des Spenders.

Eines Abends verließ er ziemlich früh das Lokal. Mir fielen seine schlurfenden Schritte auf und der unnatürlich vorgestreckte Kopf.

Der Wirt kam zu mir, polierte die Tischplatte und sagte eifrig: „Das ist Kurt. Er lebt von der Sozialhilfe. Der hat auch schon bessere Zeiten gesehen.“ Er wischte ein zweites Mal über das Holz und verzog sich wieder hinter seinen Tresen.

Dieser Kurt interessierte mich. Ich vermutete sofort eine ungewöhnliche Story. So etwas aufzuspüren bedeutete für mich so viel, wie für andere der Tanz um das goldene Kalb.

Am nächsten Abend setzte ich mich in seine Nähe. Ich tat, als bemerkte ich seine abweisende Haltung nicht. „Ich bin neu hier. Es war nicht leicht, wieder einen Job zu kriegen. Ich fahre jetzt Zeitungen aus. Früher schrieb ich selbst Artikel. Doch heute gehöre ich zum alten Eisen. Meine Arbeit macht längst ein anderer.“

Ich konnte nicht erkennen, ob er überhaupt zuhörte. Aber ich gab nicht auf. Jeden Abend setzte ich mich zu ihm und erzählte ihm von meinem abenteuerlichen Leben. Doch Kurt saß wie immer stumm auf seinem Stuhl und starrte in sein Bierglas. — So vergingen mehrere Wochen.

Ich schreckte richtig auf, als er plötzlich seinen Mund öffnete und langsam sagte: „Gegen dein Leben war meines richtig langweilig - bis zu jenem schrecklichen Abend. Die Geschichte verfolgt mich noch immer - bis in den Schlaf."

Er schwieg wieder. Ich drängte ihn nicht.

Endlich sprach er weiter: „Wir waren eine ganz normale Familie. Ich besaß einen kleinen Eisenwarenladen. Mit unseren zwei Kindern gab es nur die üblichen Probleme. An den Wochenenden ging ich zu Rudis Kneipe - Fußball gucken und Skat spielen. Dann traf sich meine Frau mit ihren Freundinnen. So lief das seit Jahren." - Er stockte, brach seine Erzählung ab, trank schnell sein Bier aus und ging. - Wieder vergingen Tage, an denen er schwieg und ich redete.

Überraschend erklärte er eines Abends aufgeregt: „Ich denke immer und immer wieder darüber nach. Vielleicht hilft es mir, wenn ich dir alles erzähle. Sollte ich deswegen Ärger kriegen, behaupte ich einfach, ich hätte mir alles ausgedacht."

Kurt nahm noch einen kräftigen Schluck, bevor er anfing: „Es war so ein Abend, an dem man keinen Hund vor die Tür jagt. Außer Alfred und mir waren keine Gäste in Rudis Kneipe. Der Wirt maulte, er wollte keinen Skat spielen. Und uns gefiel das TV-Programm nicht.

Da kam ein Fremder ins Lokal und schüttelte den Regen von seinen Klamotten. Er sah abgerissen aus und sprach ziemlich gewöhnlich. Aber Skat spielen konnte er.

Zwischen zwei Spielen schrie er, wie uns schien ohne Grund: „Dem Halunken dreh' ich den Hals um.“

Er fuchtelte mit den Armen und ließ sich nur mit einem doppelten Rum beruhigen.

Doch noch immer verriet seine Stimme die kalte Wut. „Da treffe ich doch neulich diesen Zombie. Der versprach mir Arbeit - natürlich gegen ‚cash‘. Vermittlungsprovision nannte er das. Wir verabredeten uns in der Stadt. Aber diese Missgeburt ließ sich nicht blicken. Vor Wut platzt mir bald der Schädel. Ich sitze in einer fremden Stadt - ohne Arbeit. Und dieser Mistkerl lacht bestimmt über so viel Dummheit.“

Der Fremde ließ die Arme sinken. Für den Augenblick hatte er wohl genug Dampf abgelassen. Alfred mischte die Karten. Mein Blatt konnte sich sehen lassen. Es wurde auch Zeit. Denn bis jetzt gab es nur einen Gewinner - diesen Schreihals. Das allein verhagelte uns schon die Laune.

Je später es wurde, um so lauter und unangenehmer benahm sich der Fremde. Er verlangte sogar von uns, dass wir ihm helfen und ein Nachtquartier besorgen sollten.

Doch das Tollste kommt noch. Ganz zufällig bemerkte ich den Punkt im Rautenmuster auf der Rückseite meines Kreuzbuben. Ich blickte auf Alfreds Blatt. Er besaß eine Karte mit zwei Punkten. Pikbube? - Voller Empörung sprang ich auf und knallte meine Karten auf den Tisch. „Du Betrüger! Du hast die Karten gezinkt!“

Der Fremde grinste gemein. „Das Blatt stammt aus dieser Kneipe. Also seid ihr die Betrüger.“

Jetzt griff Alfred ihn am Kragen. „Wer hat hier immer gewonnen? Das ist doch Beweis genug.“

Der Fremde schlug sofort zu. Da hielt mich nichts mehr. Ich wollte auch mitmischen. Stühle fielen um. Wir kämpften verbissen. Doch Rudi — ein Bulle von Kerl — ging dazwischen. Mit wenigen Stößen trieb er uns auseinander. Der Fremde drehte sich zu seinem neuen Gegner um. Die Klinge seines Messers sprang Rudi entgegen. Dem blieb keine Wahl. Er schlug richtig zu. Der Fremde stolperte, schlug mit dem Kopf auf die Kante des Tresens und fiel zu Boden. Ich trat ihm noch gegen die Rippen. Irgendwie musste ich meine Wut loswerden.“

Kurt atmete schwer, als erlebte er das alles noch einmal. „Der Kerl bewegte sich nicht. Er machte keine Anstalten aufzustehen. Aus seinem Mund lief ein roter Faden.

Wir untersuchten ihn und sahen uns erschrocken an. Der Mann war tot.

Rudi schloss das Lokal ab und stellte eine Flasche Rum auf den Tisch. Wir fühlten uns, als hatte man uns das Gehirn geklaut. Immer wieder sahen wir hinüber zu dem Mann am Boden. Erst mit ein paar Gläsern von dem scharfen Zeug im Leib gelang es uns, die missliche Lage zu begreifen. Wie konnte so etwas bloß passieren? Würde die Polizei uns die Geschichte glauben? Vor unseren Augen erschienen Bilder vom Knast und dem Rundgang im Hof. Nur das nicht!

Endlich sagte Rudi: „Es gibt eine Lösung. Wir müssen den Kerl verschwinden lassen. Den vermisst hier sowieso niemand.“

Wir berieten nun, wo man eine Leiche am besten loswerden kann. Zum Fluss war es zu weit, ebenso bis zu einer Landstraße, um die Leiche aus dem Auto zu werfen. Der Friedhof wurde nachts verschlossen. Sonst hätten wir sie da vergraben können. - Die rettende Idee kam natürlich von Rudi. „An der Ecke steht doch der Container für Gartenabfälle. Die Müllmänner sind nicht besonders helle und merken vielleicht gar nicht, was sie transportieren.“

Rudis Vorschlag gefiel uns. Wir griffen dem Toten also unter die Arme und schleppten ihn die Straße entlang. Bestimmt sah es so aus, als wäre der Kerl vollkommen betrunken. Ihn dann in den Container zu kippen, war für uns nur noch ein Kinderspiel.

Wir fühlten uns nicht wohl in unserer Haut. Am nächsten Abend trafen wir uns wieder bei Rudi - und von da an jeden Tag. Wir studierten alle Zeitungen, die wir auftreiben konnten. Der Mann im Container wurde nie erwähnt. Ich vernachlässigte meinen Laden und meine Familie. Immer häufiger saß ich schon am Vormittag bei Rudi. Meine Frau ließ sich scheiden.

Alfred starb ganz plötzlich an einem Schlaganfall. Und Rudi? Eines Tages machten Rocker in seiner Kneipe Randale. Er konnte einem Messer nicht rechtzeitig ausweichen.“

Kurt seufzte. „Die beiden haben es hinter sich. - Und mir bleibt nur die Hoffnung, dass der Mann gar nicht tot war. Vielleicht konnte er aus dem Container herauskrabbeln? Schließlich stand doch nie etwas in der Zeitung.“