Aufbruch ins 3.Jahrtausend

 

Gregor, dieser junge, hungrige Typ, passte genau in unsere Zeit. Er war überzeugter Single und gab nichts auf stressige Feten. Er sah nett aus, groß und schlank. Seine dunklen Haare ließ er regelmäßig vom Friseur auf praktische fünf Millimeter stutzen. Manchmal wirkte er auf andere durch sein abweisendes Gehabe direkt unfreundlich oder arrogant. Doch im Grunde war er ein friedlicher Mensch, wenn man ihn in Ruhe ließ.
Seinen dreißig Stunden Job erledigte er in einem Büro an vier Tagen in der Woche mit viel Pflichtgefühl. Wie viel Zeit blieb da einem jungen Mann für Sport und Fun in einer starken Clique. Doch nicht für Gregor! Der lebte völlig neben der Welt. Selbst wenn ihn ein Mädchen anbaggern wollte, ging das meistens weit an ihm vorbei. Jedenfalls wenn die Sache zu einer längeren Beziehung auszuarten drohte.
Gregor hatte nämlich nur einen echten Freund - seinen Computer. Zu seinem absoluten Spitzenmodell gehörten natürlich Scanner, CD-Brenner und ein Zugang zum Internet. Längst besaß das Gerät für ihn keine Geheimnisse mehr. Er kurvte stundenlang über die Datenautobahnen und konstruierte per Mausklick irre virtuelle Bilder. Er glaubte wirklich, damit besäße er schon jetzt den Schlüssel zur Zukunft.
 
Die Geschichte passierte vor ein paar Jahren. Es fehlten nur noch wenige Wochen bis zum Jahreswechsel, der Schwelle in das 3.Jahrtausend. Gregor überlegte schon lange, wie er dieses aufregende Ereignis angemessen feiern könnte. Er dachte an ein irres Event, etwas ganz Ausgefallenes. Aber so viel er sich auch umhörte, keine angebotene Feier versprach den richtigen Kick.
Eines abends surfte Gregor wieder einmal gelangweilt im Internet. Er studierte, was der Markt an Wissenswertem zu bieten hatte. Da entdeckte er plötzlich eine faszinierende Website. Er stutzte und starrte verblüfft auf das verwirrende Bild. Wie ein Magnet hielt das auffallende Logo Gregors Augen fest. Vor einem samtblauen Hintergrund leuchtete eine goldene Sonne. Ihre unzähligen Strahlenarme züngelten nach allen Seiten wie hungrige Schlangen.
Darunter stand:
‘Verpasse nicht den Aufbruch ins 3. Jahrtausend! -
Klinke dich bei uns ein! –
Warte auf die nächste Botschaft.‘
Was mochte das bedeuten? War dies die Einladung zu einer besonders ausgefallenen Sylvesterfeier? Genau so etwas hatte er doch die ganze Zeit gesucht? Bloß, wo sollte die Fete stattfinden? Nach irgendwelchen Hinweisen suchte er aber vergebens.
Er lehnte sich zurück und atmete tief durch. Die Zeit bis zum neuen Jahrtausend lief viel zu schnell davon. Da er bisher noch nicht wusste, wo und wie er diese wichtige Nacht verbringen sollte, hatte er schon beschlossen, den Jahreswechsel wie so viele Nächte im Jahr vor seinem Computer zu verbringen. Vielleicht konnte er mit anderen Freaks seinen Frust rauslassen. Doch diese seltsame Botschaft katapultierte ihn aus seiner engen Computerwelt heraus. Warum sollte er den Trip ins nächste Jahrtausend nicht so erleben wie die Botschaft es versprach. Er wollte sich bei den Leuten einklinken.
Als er abends im Bett lag, konnte er lange nicht einschlafen. Diese Botschaft von der goldenen Sonne berührte ihn ganz eigenartig. Die Sonne? Sie hatte in seinem Leben schon lange keine Rolle mehr gespielt. Er beachtete sie gar nicht. Entweder saß er bei gedämpftem Licht im Büro und entlockte dort dem Computer Zahlenkolonnen. Oder er vergnügte sich zu Hause mit seinem PC – oft bis spät in die Nacht. Da störte das Tageslicht doch nur.
Dabei war die Sonne für sie alle unentbehrlich. Ohne ihre Kraft und Wärme gibt es kein Leben auf der Erde.
Und beim Einschlafen dachte er in einem lichten Moment, dass die virtuelle Welt niemals die Realität ersetzen könnte.
 
Am nächsten Morgen hielt es ihn nicht im Bett. Er stand früher auf als sonst. Er tappte noch im Nachtanzug ans Fenster und sah hinaus. Über den Häusern hinter der dunklen Wiese färbte sich der Himmel gelb. Es dauerte nicht lange, und die Sonne stieg hoch über die Dächer. Eigentlich sah er zuerst nur das gleißende Licht. Es verwandelte den Himmel in eine leuchtende hellblaue Kuppel und tauchte alle Dinge auf der Erde in bunte Farben.
So bewusst hatte Gregor den Sonnenaufgang noch nie gesehen. Es grenzte an ein Wunder, dass ausgerechnet dieser Stern in der Lage war, das Leben auf der Erde zu erhalten. Er glaubte, er könnte jetzt den Sinn der Botschaft der Sonnenleute erst richtig verstehen.
Er ging schnell ins Bad. Er musste ja ins Büro. Doch als er wieder zu Hause war, hämmerte er per e-mail anderen Freaks diese Botschaft in die PCs. Einige waren schon über das Sonnenlogo gestolpert. Andere musste er erst schlau machen. Die meisten lachten nur über den Blödsinn. Da wollte sich doch bloß jemand einen Spaß erlauben. Außerdem hätten sie Sylvester schon was vor. Doch Gregor ließ sich nicht beirren. Er war total angefressen von dieser Botschaft und suchte weiter nach Gleichgesinnten. Er surfte jede freie Minute durch die Computerlandschaft. Er klickte sich auch immer wieder bei dieser Website ein, um mehr zu erfahren.
Doch da tat sich absolut nichts. Immer erschien der alte Text. Allmählich glaubte Gregor auch, das Ganze wäre nur eine fiese Anmache. -
Trotzdem gab er nicht auf. Seine Ausdauer wurde eines Tages tatsächlich belohnt. Vor Aufregung kriegte er die Worte unter dem Sonnenlogo zuerst gar nicht auf die Reihe.
‚Halte dich bereit!
Erlebe mit uns den Sonnenaufgang
am 1.Tag des 3. Jahrtausends.
Staune und begreife!‘
Daraufhin schickte er e-mails an alle Freaks, die er beim Chatten aufgetan hatte. Bei einigen stieß er auf Interesse. Viele hielten diese Botschaft für eine Einladung zu einer grandiosen Sylvesterparty. Ein paar hielten Gregor glattweg für verrückt.
Gregor selbst flippte total aus. Er konnte an nichts anderes denken. Er vernachlässigte seine Arbeit. Ja, er meldete sich sogar einige Tage krank. Essen und Schlafen wurden zur Nebensache. Er wartete ungeduldig auf die nächste Nachricht. Würde er dann endlich erfahren, wer diese Leute waren und wo er sie treffen konnte?
 
Die neue Botschaft mit dem Sonnenlogo wurde eine Woche später ins Internet gestellt. Gregor war begeistert. Endlich ergab sich ein Sinn.
‚Erlebe den Sonnenaufgang mit dem Meister am 1.Tag des neuen Jahrtausends!
Teile uns deine Adresse mit.‘
Darunter stand der Name 'Tor zur Sonne’ und ein Postfach in Berlin.
Gregor folgte dem Aufruf sofort und schrieb an die angegebene Adresse. Er schickte den Brief weg und fieberte der Antwort entgegen. Es schien ihm, als hätten die Tage plötzlich doppelt so viele Stunden. So langsam trödelte die Zeit.
Knapp eine Woche später verschwand die Botschaft und das Sonnenlogo für immer aus dem Internet. So oft Gregor auch danach suchte, er fand es nicht mehr. So als wäre diese Sonne plötzlich untergegangen. Aber warum?
Kurz vor Weihnachten erhielt Gregor einen Brief mit der Post. Er drehte ihn um und entdeckte auf der Rückseite das bekannte Logo als Absender. Mit zitternden Fingern öffnete er den Umschlag und zog ein Computer bedrucktes Blatt heraus.
‚Wir brechen auf ins 3. Jahrtausend! Viele unserer Anhänger auf der ganzen Erde
werden im Osten - jeder zu seiner Zeit - das Tor zur Sonne erkennen.
Mache dich auf den Weg! Dein Ziel liegt in Cornwall in England. Südlich von Falmouth und nördlich von Lizard steht ein verfallenes Gehöft namens Cadgwith. Dort finde dich am letzten Abend dieses verrinnenden Jahres ein. Die Gebühr für dieses Seminar beträgt 4.000 Mark. Miete dich ein paar Tage vorher in der Nähe ein. Wir erwarten dich! Bringe diesen Brief als Ausweis mit!
Der Meister wird selbst anwesend sein, um mit uns den ersten Sonnenstrahl im neuen Jahrtausend zu feiern, der  durch das Tor zur Sonne dringt. Du bist auserwählt!‘
Ein seltsames Kribbeln lief durch seinen Körper. Diese Leute waren auf dem richtigen Weg. Ohne Sonne gibt es kein Leben! Man sollte dafür beten, dass sie noch viele Jahrtausende der Erde Wärme spenden möge.
Doch die anfängliche Begeisterung verflog schnell. Gregor starrte verzweifelt auf das Papier. Die Leute vom ‘Tor zur Sonne‘ konnte er getrost vergessen. Es gab für ihn keine Möglichkeit, nach England zu reisen. Er besaß kein Auto. Und ein Flugticket konnte er sich neben dieser hohen Gebühr für das Seminar einfach nicht leisten. - Doch dann packte ihn die Wut. Mit einem Mal schien ihm nichts wichtiger, als dieses Treffen mit den Leuten vom 'Tor zur Sonne'.
Das verfallene Gehöft in Cornwall war doch wie geschaffen für so ein unheimliches, geheimes Seminar. Dort lebten einst Kelten und ihre Druiden, die gewiss auch heute noch durch die Moore geisterten.
 
Gregor versuchte, Kontakt zu anderen Aufbruchswilligen zu bekommen. Doch er hatte wenig Glück. Man verspottete ihn. Einige sagten auch ehrlich, dass ihnen die Sache zu teuer wäre oder zu abgedreht. Doch dann meldete sich ein gewisser Tom bei ihm. In ihm fand er endlich einen Gleichgesinnten.
Tom besaß ein Auto und bot Gregor an, ihn mitzunehmen. Er erklärte das so: „Ich versuche, noch zwei weitere Interessierte zu finden. Ich buche für alle Plätze auf der Fähre. Wir teilen uns dann die Fahrtkosten. Ich komme am Tag nach Weihnachten mit dem Wagen und hole dich ab. Einverstanden?”
Gregor konnte kaum noch still sitzen. Selbst sein Computer wurde zur Arbeitslosigkeit verdammt. Was bedeutete schon die künstliche Welt gegen so ein mystisches Abenteuer in Cornwall?
Er ließ sich zwei Wochen Urlaub geben und holte das Geld von der Bank ab - fast seine gesamten Ersparnisse. Die langweiligen Feiertage mit den Eltern und seiner Schwester kamen ihm vor, als müsste er eine Strafe absitzen. Von dem Trip nach Cornwall erwähnte er lieber nichts. Seine Familie verstand ihn ja doch nicht und mäkelte so schon genug an ihm herum. Doch auch solche Tage gehen einmal vorüber.
Die Hupe von Toms Wagen löste endlich die unerträgliche Spannung. Gregor schnappte sich seinen Rucksack, fühlte nach Geld und Papieren und rannte auf die Straße.
Der lebhafte Tom hätte leicht als Gregors Bruder durchgehen können. Er hatte zwar nicht die gleiche Frisur, aber die gleichen dunklen Haare. Beide besaßen die gleiche schlanke Figur und waren in etwa gleich groß. Sie verstanden sich von der ersten Minute an.
Schnell verstaute Tom Gregors Gepäck. Dann zeigte er auf die Rückbank seines altersschwachen Gefährts. "Das sind Inge und Rudi. Zu viert wird die Fahrt billiger und bestimmt auch lustiger.”
Inge wirkte beruhigend normal, weder zickig noch eingebildet. Sie hatte lustige blaue Augen und Grübchen, wenn sie lachte. Ihr langes blondes Haar hielt ein Band zusammen. Sie rief: „Willkommen an Bord. Wir werden uns bestimmt vertragen.“
Rudi war ein stämmiger, gutmütiger Typ. Sein hellbraunes Haar wirkte etwas struppig über dem rundlichen, vor Aufregung rosig angehauchtem Gesicht. Auch er winkte fröhlich. Gregor wusste gleich, dass dieser Ausflug sich zu einem tollen Abenteuer entwickeln würde.
Die Vier genossen die Fahrt. Sie lachten und wussten immer neue dumme Sprüche, gerade so, als wären sie alte Freunde. Sie konnten ja nicht ahnen, was sie in Cornwall erwartete.
Im Hamburger Hafen an den Landungsbrücken wartete schon die Fähre ‚Prinz Hamlet‘, die sie nach Harwich bringen sollte. Tom meinte verlegen: "Ich hoffe, Inge nimmt es nicht krumm, dass ich für uns alle eine Viererkabine gebucht habe?"
Inge sah die drei jungen Männer forschend an. Anscheinend fiel der Test positiv aus. Denn sie nickte. "In Ordnung, mit euch werde ich fertig."
Alle lachten übermütig. Sie warteten ungeduldig bis sie mit dem Wagen über die große Bugklappe im Bauch der Fähre verschwinden konnten. Nachdem der Wagen an seinem Platz festgezurrt war, kletterten sie mit ihrem Gepäck an Deck.
Sie standen an der Reling und sahen zu, wie das Schiff ablegte und langsam Fahrt aufnahm. Die Überfahrt verlief fast zu ruhig für die vier ausgelassenen neuen Freunde.
Als sie abends noch eine Weile auf den Betten in ihrer Kabine saßen, fiel ihnen das Ziel ihrer Reise wieder ein.
Inge sagte plötzlich bedrückt: „Ich weiß nicht, ob es richtig war mitzufahren. Denn von Sonnenanbetern liest man manchmal so schreckliche Sachen in den Zeitungen. Aber die Botschaften übten einen eigenartigen Reiz auf mich aus. Deshalb bin ich hier. Und die Sonnenanbeter hießen ja auch ganz anders.“
Tom lächelte überlegen. „Du siehst Gespenster. Ich finde den Gedanken toll, den ersten Sonnenstrahl im neuen Jahrtausend einzufangen. Dazu gehören auch – hoffe ich – geheimnisvolle Zeremonien. Unsere Welt ist so sachlich. Da brauchen wir doch einmal etwas für unser Gemüt - und kein Flugverbot für verrückte Gedanken.“
Gregor stimmte ihm zu. „Ich fühlte mich schon von der ersten Botschaft angezogen. Ich muss einfach diese Leute und das ‚Tor zur Sonne‘ kennenlernen.“
Rudi wollte nicht so recht mit der Sprache raus. Er sagte langsam: „Ach wisst ihr, ich bin eigentlich gar nicht für so abgehobenen Kram. Ich gehe ja auch nicht in die Kirche. Wenn ich ehrlich bin, kamen mir die Botschaften ziemlich albern vor.
Ich bin da so reingerutscht. Meine beiden Brüder gehen zu einer tollen Fete. Sie wollten mich nicht mitnehmen. Ich wäre zu spießig und passte nicht in die Clique. Da wurde ich bockig. Ich sagte, ich wüsste ein wirklich tolles Event in Cornwall. Sie wurden neugierig, aber ich verriet nichts. Um mich nicht zu blamieren, muss ich doch einfach bei dieser Fahrt mitmachen.“
Tom regte sich sofort auf. „Du nimmst das also gar nicht ernst? Du störst damit unsere Gruppe.“
Schnell sagte Rudi: „So musst du das nicht sehen. Ich mache mich doch nicht lustig über euch. Ich bin auch neugierig. Und ich finde die Fahrt mit euch einfach toll.“
Tom meinte versöhnt: „Hauptsache, wir halten zusammen. Alles andere ist doch egal.“
Sie diskutierten noch eine Weile. Irgendwann wurden sie müde und legten sich schlafen.
 
Von Harwich aus fuhren sie über London und Plymouth nach Truro und Falmouth. Unterwegs kaufte Inge ein und sie veranstalteten ein Picknick am Straßenrand. Zum Glück war die Temperatur einigermaßen erträglich.
Es wurde schon dunkel, als sie endlich Falmouth erreichten. Bei einem Bauern in der Nähe bekamen sie für ein paar Nächte Quartier. Sie waren zufrieden mit dem einfachen Zimmer mit vier Betten wie im Liegewagen übereinander. Dafür stimmte auch der Preis.
Am nächsten Morgen erkundeten sie als erstes die Umgebung. Neugierig betrachteten sie vor allem - zunächst aus der Ferne - das verfallene Gehöft am Rande der Klippen. Das Gebäude wirkte so düster, als ginge es dort nicht mit rechten Dingen zu. Ein Teil des Daches hing windschief über zerborstenem Mauerwerk. Langsam wagten sie sich näher. Da entdeckten sie, dass der Hauptteil des Gebäudes noch völlig intakt war. Doch die blinden Fensterscheiben erlaubten keinen Blick ins Innere. Tom rüttelte an dem Tor. Doch es gab nicht nach. Sie suchten sich einen Weg rund um das ungeahnt weitläufige Gebäude. Dabei stolperten sie über Schutt und die Wurzeln der hohen Bäume, die hier die Herrschaft übernommen hatten. Hinter dem Haus fanden sie einen schmalen Pfad der direkt am Klippenrand entlang führte.
Als sie wieder auf dem sicheren, breiten Weg anlangten, fröstelte Inge. „Einen gruseligeren Platz hätten die sich nicht aussuchen können. Da hausen bestimmt noch diverse böse Geister.“
Tom hakte sie unter. „Kommt, trinken wir irgendwo einen heißen Kaffee. – Und dann besichtigen wir die Docks von Falmouth.“
Sie gingen über die hölzernen Piers, die von großen Pfosten gesichert wurden. Es wirkte alles so antiquiert, als wäre hier seit hundert Jahren nichts verändert worden. Sie sahen ein paar Fischerboote, einen Kümo und ein paar Barkassen. Aber es schien hier niemand zu arbeiten.
Sie gingen ein gutes Stück stadteinwärts. Doch auch die Anlegestelle für Touristenschiffe war völlig verwaist.
Kein Wunder, jetzt hielt der kleine Badeort seinen Winterschlaf. Es war ja kalt und ungemütlich. In dem ganzen Ort gab es nirgendwo eine vernünftige Heizung. Nur Kamine, die man auch noch in die Wand eingebaut hatte, so dass nur die Vorderfront Wärme abgeben konnte. Zum Glück hatten die Vier warme Klamotten dabei. Damit deckten sie sich auch nachts zu. Denn die Decken taugten nicht viel.
Abends saßen sie im ‚Laughing Pirate‘. Im Pub wurde es schon durch die vielen Menschen warm. Die Preise für die Getränke waren gepfeffert, so dass sie sich lange an ihrem Glas fest halten mussten. Plötzlich rief der Wirt ‚Last orders please‘ – Letzte Bestellungen bitte. In England schmiss man nämlich die Gäste schon um 22 Uhr aus den Pubs.
 
Am Sylvesterabend brachen sie zu ihrem Abenteuer auf. Sie fuhren mit dem Wagen nur bis in die Nähe des Gehöfts. Denn dort gab es kaum Parkmöglichkeiten. Auf einem Platz am Waldrand stellten sie den Wagen ab und gingen den letzten Teil des Weges zu Fuß.
Inge fürchtete sich und hakte sich bei Gregor ein. Denn zwischen den Bäumen tauchten immer neue gespenstische Schatten auf, die sich nicht verjagen ließen. Seltsame Geräusche bedrängten sie von allen Seiten.
Endlich erreichten sie den Weg, der sie ans Ziel bringen würde. Im unsicheren Licht des Mondes schien sich das verfallene Gehöft in einen Furcht erregenden Gasthof aus den transsylvanischen Wäldern zu verwandeln.
Vor dem Gebäude standen lila gekleidete Gestalten. Ihre Gewänder reichten von den Füßen bis über den Kopf. In dieser verwunschenen Landschaft konnte man glauben, sie kämen geradewegs von Alpha Centauri oder der Wega. Die vier Freunde waren langsam so weit, so irre Sachen zu glauben.
Am Tor warteten bereits viele Teilnehmer des Seminars auf Einlass. Die lila Gestalten versuchten, dazwischen Ordnung zu halten. Die vier Freunde gingen zu der langen Schlange der Wartenden und stellten sich brav an. Es dauerte lange bis endlich nur noch ein Mann vor Gregor stand.
Der lila Typ sagte kühl: "Bitte zahl die Gebühr, trag dich ein und gib mir den Brief."
Der Angesprochene zögerte. "Hier ist der Brief. Aber ich besitze nicht so viel Geld.”
Dann ging alles blitzschnell. Drei lila Typen sprangen auf den Mann zu. Zwei griffen hart seine Arme. Der dritte packte seine linke Hand und presste einen Metallbolzen darauf. Der so Misshandelte schrie laut auf.
Er starrte entsetzt das Sonnenlogo an, das sich auf seinem linken Handrücken abzeichnete. "Geht das auch wieder ab?"
Einer dieser lila Brüder schob ihn in das Innere des Gebäudes. "Natürlich, wenn du es nach dem Seminar noch immer wünschst. Es dient uns als Zeichen.”
Und dann stand Gregor vor dem lila Türsteher. Er lieferte den Brief ab, zahlte die Gebühr und unterschrieb einen Wisch, den er im Dunkeln nicht lesen konnte. Man ließ ihn und seine Freunde unbehelligt eintreten. Ihnen verpasste niemand das Sonnenlogo auf den Handrücken. Unsicher sahen sie sich um.
Sie befanden sich in einer riesigen Halle. Ringsum an den Wänden hockten dicht gedrängt die unterschiedlichsten Typen auf goldenen Sitzkissen am Boden. Hoch über ihren Köpfen führte eine Galerie rings um den Raum. Doch die Vier starrten wie gebannt nur auf eine Stelle. Da gab es von der Galerie aus eine Tür nach draußen. Das wirklich irre war der breite prächtige Rahmen um diese Tür. Er schien aus purem Gold. Seltsame Ornamente und Figuren wirkten auf den Betrachter wie Zeichen einer alten Schrift.
Inge sagte leise: „Die Tür geht genau nach Osten auf. Und ich wette, der erste Sonnenstrahl am Morgen trifft genau die Mitte des Bodens. Seht nur...“
Genau dort sahen sie das gewaltige Sonnenlogo aus goldenem Metall.
Rudi drängte die Freunde. „Lasst uns lieber einen Platz suchen. Es bleibt sicher noch genug Zeit, alles anzusehen. Es ist schon ziemlich voll.“
Die vier Freunde fanden noch Plätze nebeneinander. Die Kissen waren hart und sehr unbequem. Sie nahmen Inge in die Mitte. Denn es drängten sich immer mehr Seminarteilnehmer neben sie. Es mussten inzwischen mehrere hundert sein.
Irgendwann schlossen die Eingeweihten, wie sich die lila Gestalten nannten, das Tor nach draußen. Dann versammelten sie sich und schritten langsam zu ihren Plätzen. Sie bildeten einen zweiten Kreis um das große Sonnenlogo in der Mitte.
Plötzlich verlöschten die vielen nackten Glühbirnen an der Decke. Ein einsamer Strahler warf sein grelles Licht in die Mitte des Raums.
Ein Gong ertönte.
Eine Stimme rief: "Der Meister!"
Ein großer hagerer Mann mit leuchtend weißen Haaren trat in den beleuchteten Innenraum – genau auf das Logo. Es wurde totenstill, als er die Arme ausbreitete. Unter dem lila Überwurf trug er ein funkelndes, goldenes Gewand. Viele der Anwesenden schienen die Zeremonie zu kennen. Sie standen auf, kreuzten die Arme vor der Brust und neigten den Kopf. Alle anderen taten es ihnen nach.
Die Stimme des Meisters klang unerwartet hell und durchdringend: "Ich begrüße euch als meine Freunde und als Wanderer auf dem Weg zum Tor zur Sonne! Wir werden die Stunden bis zum Aufgang der Königin der Gestirne gemeinsam in diesem Raum meditieren, beten, singen und ein einfaches Mahl zu uns nehmen.
Wenn uns der erste Strahl der Sonne im neuen Jahrtausend trifft, wird das alte Ritual seinen Anfang nehmen. Sieben Eleven werden sich bewähren und in den Kreis der Eingeweihten aufgenommen.”
Seine Stimme wurde leiser. Das Licht des Strahlers erlosch. Als die vielen nackten Glühbirnen wieder hell wurden, war der Meister verschwunden.
 
Jetzt erhoben sich mehrere der lila gekleideten Typen und liefen geschäftig hin und her. Einige kamen mit Musikinstrumenten zurück. Sie setzten sich wieder auf den Boden um die goldene Sonne. Doch jetzt wandten sie den übrigen Gästen ihre Gesichter zu.
Langsam ging das Licht bis auf wenige Birnen aus. In dem Halbdunkel stimmten sie ihre Instrumente. Ihre Musik klang wenig harmonisch. Doch mit der Zeit versetzte die Eintönigkeit der Melodien alle in einen Zustand der Willenlosigkeit. Die Musiker wiegten ihre Körper zum Klang der fremdartigen Töne. Bald bewegten sich alle Anwesenden im gleichen Takt - wie in Trance. Die vielen Körper neigten sich wellenförmig wie die Glieder einer riesigen Schlange.
Rudi sagte leise: "Ist der Meister nun ein Guru oder ein Scharlatan?”
Doch unter dem strengen Blick eines Eingeweihten verstummte er sofort.
Irgendwann - den Menschen war das Gefühl für die Zeit verloren gegangen - wurde es wieder hell. Die Instrumente verstummten nacheinander. Die Zuhörer hielten in ihren Bewegungen inne. Alle atmeten auf, als hätten sie eine schwere Anstrengung hinter sich.
Sofort änderte sich das Bild. Die Gäste sollten wohl keine Zeit zum Nachdenken finden. Die Vertrauten des Meisters schleppten jetzt Schüsseln mit Obst und Brot heran und stellten sie vor die Gäste auf den Boden. Andere schenkten aus großen Krügen Wein in Plastikbecher. Aber auch das Mahl ließ keine Fröhlichkeit aufkommen. Alle aßen schweigend und tranken dazu den schweren Wein. Die Freunde steckten die Köpfe zusammen. Sie wagten nur zu flüstern. Sie fühlten sich unbehaglich und wären am liebsten gegangen.
Der Zeiger der großen Uhr gegenüber dem goldenen Tor wanderte gegen Mitternacht. Das Licht verlosch wieder. Der Strahler beleuchtete das Emblem in der Mitte des Fußbodens. Der Meister erschien dort und sein goldenes Gewand funkelte in dem harten Licht. Es schien, als verschmölze die Gestalt mit dem Sonnenlogo auf dem Boden. Er hob die Arme. „Hört! Es ist Mitternacht! Das neue Jahrtausend hat begonnen. Wir wollen uns erheben.“
Alle standen auf. Durch die geöffnete Eingangstür hörten sie von ferne Kirchenglocken.
Erst als diese verstummt und die Eingangstür wieder verschlossen war, sprach der Meister wieder. „Hört, was ich euch zu sagen habe. Eines Tages werden wir alle – jeder zu der ihm bestimmten Stunde - durch das Tor zur Sonne gehen.
Dort werden wir Frieden finden. Wem Gnade widerfährt, den wird die Königin der Gestirne in die Arme schließen. -
Wenn sie im Osten über den Horizont steigt, soll es geschehen.“
Der Meister schlug den lila Überwurf über dem goldenen Gewand zusammen. Gleichzeitig verdämmerte der Strahler. Es wurde dunkel im Raum. - Seine helle Stimme sang die nächsten Worte: „Lasst uns die vorgeschriebenen Gebete sprechen...“
Ein eintöniges Gemurmel erfüllte die Halle, schwoll an, um dann wieder zu einem Flüstern herab zu sinken. Müdigkeit überfiel die Gäste. Gregor bemühte sich, wach zu bleiben. Auch seine Freunde kämpften gegen den Schlaf. Anderen schien es nicht besser zu gehen. Inge wickelte sich als erste in ihren Mantel und legte sich auf den Boden. Tom, Gregor und Rudi fielen auch die Augen zu. Ihnen blieb kaum Zeit, sich mit ihren warmen Jacken zuzudecken. Das Gemurmel - vielleicht auch der Wein - schickte ihnen beängstigende Träume...
 
Als sie erwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel.
Aber diese Königin der Gestirne kümmerte sich nicht darum, dass die Menschen in ihrer unwichtigen Zeitrechnung ein neues Jahrtausend feierten. Wie schon seit Milliarden von Jahren folgte sie ihrer Bahn um den Mittelpunkt ihrer Galaxis und schleppte ihre Planeten und deren Monde mit sich.
 
Die Neulinge bei diesem Seminar kämpften noch verwirrt mit dem Schlaf. Alles schien verändert. Das Tor oben auf der Galerie stand weit offen und ließ das Sonnenlicht herein. Doch die dekorative, breite Umrahmung aus Edelmetall fehlte. Das Tor zur Sonne war nur noch eine einfache Tür in der Mauer.
Die lila Gestalten waren verschwunden und mit ihnen die meisten Teilnehmer dieser seltsamen Veranstaltung. Das verbliebene Häufchen bestand nur noch aus höchstens dreißig Personen. Sie erhoben sich langsam. Ihr Verstand weigerte sich, den Sinn des absurden Anblicks zu begreifen. Das wachsende Entsetzen verschloss ihnen den Mund.
Das Sonnenlicht fiel genau in die Mitte des Raumes. Das große Sonnenlogo hatten die Anhänger des Meisters mitgenommen. Stattdessen lagen dort sieben Menschen sternförmig angeordnet am Boden. In der Mitte berührten ihre Füße eine bunte Erdkugel aus Metall – so als stünden sie auf ihr. Ihre Köpfe lagen weit auseinander, ihre Arme hatte man weit ausgestreckt, so dass sich ihre Hände berührten. Sie mussten tot sein. Denn dort wo einst ihr Herz schlug, ragte jetzt bei jedem von ihnen der goldene Griff eines Dolches aus der Brust. Rote Rinnsale waren von den Wunden auf den Boden getropft.
Als die verschreckten Menschen plötzlich begriffen, was geschehen war, jammerten sie und schrien.
Da sprang ein energischer junger Mann in die Mitte zu den Toten. Er hob ein Schild vom Boden auf und hielt es ihnen entgegen. Er brüllte: „Ruhe! Hört, was hier geschrieben steht.“
Es wurde augenblicklich still. Der junge Mann wusste die Worte anscheinend auswendig: “Da steht: Diese Menschen wollten unseren Kreis stören. Darauf gibt es nur eine Antwort. Wir schickten sie durch das Tor zur Sonne. Aber wir wollen ihnen verzeihen. Denn die Sonne nahm unser Opfer gnädig an. Schweigt gegen Jedermann. Denn ihr gehört jetzt zu uns. Und ihr wollt doch nicht zu Verrätern werden. – Wir sehen uns wieder!”
Der Mann musterte die verstörten Gesichter verächtlich. Würden die jemals das Opfer darbringen können? –
Der Meister machte niemals Fehler. Darum durften die Neulinge der Opferzeremonie auf keinen Fall beiwohnen. Man würde sie zuerst gründlichen Prüfungen unterziehen.
Seine Stimme wurde noch eindringlicher: "Wir wollen jede Panik vermeiden. Verlasst dieses Gebäude ruhig und steigt in eure Autos. Je eher ihr dieser Gegend den Rücken kehrt, um so besser für uns alle. Die Polizei könnte uns sonst für Mörder halten."
Danach verließ der Vertraute des Meisters langsam das verfallene Gehöft. Das Schild nahm er mit sich.
 
Die ersten Neulinge nahmen hastig ihre Sachen und drängten ins Freie. Sie begriffen noch gar nicht, in welche Falle sie geraten waren.
Tom fasste Rudi und Inge bei der Hand. "Los kommt! Bloß weg von diesem verfluchten Ort.” Sie hasteten durch den Wald zum Wagen. Doch Gregor wollte mehr wissen. Er ging zu den Toten und betrachtete sie. Ihre Gesichter zeigten ungläubiges Entsetzen.
Er sah auf und bemerkte, dass er mit den Toten allein war. Angst griff nach ihm. Vielleicht war die Polizei schon auf dem Weg hierher? Er floh ins Freie. Ohne zu überlegen rannte er den ganzen Weg bis zum Auto.
Als er dort eintraf, keuchte er: „Ich habe mir die Toten genau angesehen. Alle sieben hatten das Sonnenlogo auf dem linken Handrücken. So ein Brandzeichen bekam zum Beispiel am Tor der Mann vor mir, weil er seine Gebühr nicht bezahlen konnte.”
Rudi starrte ihn entsetzt an: "Heißt das, wir hätten uns frei gekauft?”
Tom sagte düster: “Ja, für dieses eine Mal! - Weiß jemand von euch eigentlich, was wir da unterschrieben haben?”
Sie schüttelten die Köpfe.
Inge jammerte: „Wir haben nichts in der Hand. Wir mussten doch die Briefe abgeben, das einzige Beweisstück. – Aber sie kennen uns und unsere Adressen.“
Gregors Worte kamen der Wahrheit ziemlich nahe. “Ich fürchte, dieser Vertrag enthält keine Rücktrittsklausel.
Wir haben unsere Seelen verkauft.”