Die Rentenformel

 

Elena kam gerade von einer ausgedehnten Radtour zurück. Sie schaffte ihr Stahlroß in den Keller und ging hinauf in ihre Wohnung. Dankbar dachte sie an die Errungenschaften der modernen Medizin. Noch vor 50Jahren wäre ein 70jähriger Mensch kaum so fit gewesen wie sie heute. Über Krankheiten wie Krebs, Herzinfarkt oder ähnliche Geißeln des 20.Jahrhunderts konnten sie nur lachen. Auch Rheuma mit seinen ekelhaften Schmerzen gab es schon seit 100 Jahren nicht mehr.

Heutzutage starben die Menschen an Herzversagen - jedenfalls die meisten. Unfälle ließen sich leider nicht ganz vermeiden, aber man arbeitete daran.

In dem vergangenen Jahr hatte Elena viele Freunde verloren. Alle waren kerngesund bis zum letzten Tag. Und dann plötzlich - wie vom Blitz getroffen - fielen sie um und waren sofort tot...

Elena öffnete den Briefkasten. Darin lag nur ein amtlich aussehendes Schreiben. Es enthielt die Aufforderung, sie möchte sich am nächsten Tag beim Amtsarzt zur Untersuchung einfinden. - Sie begriff das nicht. Ihr fehlte absolut nichts.

Sie erhielt bisher nur ein einziges Mal so eine Vorladung.

Nämlich als sie mit 60 Jahren in Rente ging. Das war  genau vor zehn Jahren.

Damals handelte es sich mehr um so ein Routineding. Der Arzt untersuchte sie nur flüchtig. Er zeigte mehr Interesse daran, ihre Daten in einem Computer zu speichern - unter ihrem persönlichen Geheimcode.

Dieses Mal sah der junge, ziemlich arrogante Mediziner nur kurz in seinen Computer. „Ein schönes Alter. Siebzig wird nicht jeder. Hatten Sie in den letzten Jahren irgendwelche Krankheiten?“

Elena schüttelte den Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht einmal Husten?“

„So so,“ brummte der junge Mann. „Gut für Ihre Krankenkasse.

Trotzdem kann ich Ihnen den Gesundheitscheck nicht ersparen.“

Während Elenas Körper sich langsam durch eine Röhre vorwärts bewegte, saß er vor seinem Computer. Er schien zu rechnen und irgendwelche Daten zu vergleichen. Dann betrachtete er die Bilder aus Elenas Innern auf einem Wandschirm.

Bevor sie sich anzog, verpasste er ihr noch eine Spritze.

Er wiegte den Kopf hin und her. „Ja beste Frau, Sie sollten langsam Ihre Angelegenheiten ordnen. Ihr Testbild lässt zu wünschen übrig. Aber keine Sorge, Sie müssen erst in zwei Jahren abtreten. Also genießen Sie Ihr Leben noch so lange.“

Elena sagte abwehrend: „Wie kommen Sie darauf? Mir geht es ausgezeichnet.“

Der junge Mann zuckte mit den Schultern. Was interessierte ihn die alte Frau. „Die Diagnose müssen Sie schon mir überlassen. Jeder Mensch trägt den Tod seit seiner Geburt in sich. Einmal trifft es eben auch Sie. - Vielleicht irre ich mich ja auch.“

Er betrachtete sie gleichgültig. Diese alten Leute nahmen sich doch viel zu wichtig.

 

Elena ging wie betäubt nach Hause. Natürlich musste sie damit rechnen, eines Tages so eine hölzerne Truhe zu beziehen. Aber sie fand es nicht gerade toll, den Termin schon im voraus zu wissen.

Plötzlich fiel ihr Ruth ein. Ihre Freundin starb vor einem halben Jahr - an Herzversagen.

Wenn sie sich richtig erinnerte, kannte Ruth ihren Todestag schon vorher, Zuletzt weinte sie - jetzt sind es nur noch vier Wochen, dann – nur noch zwei Wochen...

Bloß – woher wusste Ruth das?

Damals nahm Elena ihr Gejammer nicht besonders ernst. Ruth übertrieb nämlich gern. Trotzdem tröstete sie ihre Freundin immer wieder.

Und dann starb Ruth genau an dem Tag, den sie ausgerechnet hatte - einfach so - mit 68 Jahren.

Elena fühlte Angst in sich aufsteigen. Doch sie unterdrückte das Gefühl. Warum sollte sie auf das Datum starren. Bis dahin blieben ihr noch zwei Jahre.

Bei einem Besuch erzählte sie ihren Kindern von der Diagnose des Arztes. Doch die lachten sie nur aus.

Ihr Sohn wollte sie beruhigen: „Du sagst selbst, der Arzt hat zugegeben, er könnte sich auch irren. Du bist noch richtig knackig. Du machst es sicher noch fünfzehn Jahre.“

Wie sollte er sie auch verstehen. Der Tod war für ihn noch kein Thema.

Sie beschloss, den alten, 80 jährigen Fred zu besuchen.

Er war hoch erfreut und überredete sie zuerst einmal zu einer Partie Schach.

Danach fragte Elena ihn vorsichtig, wann er zuletzt zu einer amtsärztlichen Untersuchung musste.

Fred holte eine Flasche Likör aus dem Schrank und schenkte zwei Gläser voll. „Nun trink erst mal. - Also das ist schon ewig her. Ich kriegte die Aufforderung, als ich mit 62 Jahren die Rente anpeilte. Ich arbeitete dann noch ein paar Jahre ehrenamtlich bei so einer Hilfsorganisation. Irgendwann hatte ich aber die Schnauze voll. Da gab es immer so Typen, die sich profilieren wollten. Vor neun Jahren schmiss ich die Brocken hin.

Warum fragst du?“

„Ach nur so. Ich musste vor ein paar Tagen zum Amtsarzt. Schon komisch - vor genau 10 Jahren mit 60 hat mich meine Firma abgeschoben.“

Fred lachte auf. „Die haben wohl nicht genug zu tun. Darum lassen sie dich noch mal nach zehn Jahren antreten.“

Sie spielten noch eine Partie. Dann verabschiedete sich Elena.

 

Zu Hause begann ihr Gehirn wie ein Computer Daten zu produzieren.

Anscheinend war der Beginn des Rentnerdaseins ein wichtiges Datum. Ab 55 stand es jedem frei, sich vom Arbeitsleben zu verabschieden. Diese Untersuchung gehörte zu den Formalitäten, um an die Rente zu gelangen.

Jetzt versuchte Elena sich an Ruths Daten zu erinnern. Ihre  Freundin schmiß doch schon mit 56 die Arbeit hin und starb genau zwölf Jahre später.

Und sie selbst? Wenn die Voraussagen des Arztes stimmten, würde der Staat bei ihr auch nach zwölf Jahren die Zahlungen einstellen. – Wie unheimlich!

Halt! Bei Fred stimmte das nicht! – Das tröstete Elena. - Wie kam sie nur auf so eine bescheuerte Idee. Wer sollte denn die Menschen genau zum richtigen Zeitpunkt töten?

Am nächsten Morgen kochte sich Elena eine große Kanne Kaffee und setzte sich auf ihr Sofa. Sie musste jetzt in Ruhe überlegen, wie sie mit dieser Wahrheit umgehen sollte. Zwei Jahre waren keine besonders lange Zeit. Nicht wenn man schon so viele davon hinter sich gebracht hatte.

Eine gute Seite konnte sie der Sache aber abgewinnen. Sie brauchte nicht zu fürchten, dass sie schon vor diesem Datum den Abflug antreten musste.

Wichtig schien ihr, sich diese Zeit gut einzuteilen.

Zuerst wollte sie schriftlich ihr bisschen Habe verteilen. Und eine Reise musste unbedingt auch noch drin sein - möglichst eine Kreuzfahrt.

Aber es reizte sie auch herauszufinden, ob jemand diese plötzlichen Todesfälle der Leute manipulierte.

Sie legte also eine Liste an, in die sie schon mal Ruth, Fred und sich selbst eintrug.

Am Nachmittag beschloss sie, doch wieder zu diesem langweiligen Seniorentreff zu gehen. Hier bot sich die beste Gelegenheit, die Rentnerkaste auszufragen. - Doch das erwies sich als ziemlich schwierig.

Zuerst erkundigte sich Elena ganz harmlos, wie lange sich die Einzelnen schon Rentner nennen durften. Das fanden die Herrschaften noch witzig. Aber so wie die Rede auf die blöden Untersuchungen kam, wandten sich alle ab.

Also änderte Elena ihre Taktik und interessierte sich für die Todesfälle. Der Vorsitzende des Vereins holte stolz seine Mitgliederliste raus. Elena zeigte sich tief beeindruckt.

So erfuhr sie auch ganz nebenbei, wie lange die Verstorbenen Rente bezogen hatten. Bei den meisten dauerte dieser Lebensabschnitt genau zwölf Jahre. Nur wenige lebten etwas länger. –

Elena wusste nicht, was sie davon halten sollte.

Da blieb auch noch eine andere Frage offen. Woher wollte der Arzt wissen, dass ihr und vorher Ruth noch genau zwei Jahre Restlaufzeit blieben?

 

So verging das erste Jahr.

Elena gönnte sich eine tolle Kreuzfahrt. Bei jedem Landausflug war sie dabei. Sie wollte noch möglichst viele Länder kennenlernen.

Auch an Bord ließ sie das Thema Tod nicht los. Sie erschrak, denn in anderen Ländern schien das Ableben der Alten genau so geregelt. Ihre Liste wurde immer länger.

Sie war kaum von der Kreuzfahrt zurück, da rief Fred sie an, sie möchte ihn besuchen.

Nach der üblichen Partie Schach kam er zur Sache. „Du interessierst dich doch für die Besuche beim Amtsarzt? Also ich war gestern da. Der Kerl hat mir ganz cool mitgeteilt, ich würde es nur noch zwei Jahre machen.

Findest du es nicht auch seltsam, dass ich vor genau zehn Jahren auf mein Ehrenamt in dem Verein dankend verzichtete?“

Nachdenklich sagte er noch: „Weißt du, 83 Jahre sind wirklich genug. - Trotzdem wundert es mich, dass wir bei dem Stand der modernen Medizin nicht mindestens 120 Jahre alt werden.“

Jetzt war Elena sich ihrer Sache ziemlich sicher. Sie legte einen Aktenordner an, wo sie ihre Nachforschungen schön übersichtlich abheftete. Den würden ihre Kinder später finden. Sie könnten dann alles den Medien zur Verfügung stellen.

Dann schob sie die Gedanken an den nahen Tod bei Seite und genoss jeden Tag, der ihr noch blieb.

 

Als Elenas Zeit fast abgelaufen war, suchte sie den Amtsarzt auf. Die Sprechstundenhilfe wollte sie wegschicken.

Doch Elena sagte fest: „Ich weiß, warum ich nach 12 Jahren Rente sterben muss.“

Wenig später stand sie vor dem arroganten Mann im weißen Kittel.

Er fragte spöttisch: „Sind Sie krank?“

Elena sah ihn abfällig an. „Natürlich nicht. Trotzdem muss ich in wenigen Tagen sterben.“

Der Arzt lächelte überlegen. „Warum warten Sie es nicht ab?“

Elena fuhr ihn an: „Ich habe überall herumgefragt. - Wirklich aufschlussreich! - Nach 12 Jahre ohne Arbeit geht nichts mehr. Ehrlich gesagt, möchte ich wissen warum? Und - war es die Spritze?“

Der Arzt nickte. „Ich kann es Ihnen ruhig sagen. Sie kommen hier sowieso nicht mehr raus. Bei Ihrem letzten Besuch verpasste ich Ihnen die sogenannte demographische Spritze. Sie enthält Gene, die genau nach zwei Jahren den Zerfall der Zellen einleiten.

Das Ganze wurde bei der letzten Rentenreform beschlossen –und zwar global. Wer zwölf Jahre für die Allgemeinheit nichts mehr gebracht hat, soll den Weg für Jüngere frei machen. Sie müssen zugeben, auf eine wirklich humane Art und Weise.“

Elena sah ihn böse an. „Human? – Ich finde das makaber.“

Er drückte auf einen Knopf.

Als die Pfleger den Raum betraten, sagte er: „Früher haben die Eskimos ihre alten Leute auf einer Eisscholle ausgesetzt, damit die Eisbären sie fressen. – Das war makaber.“

 

Kurz darauf erhielten Elenas Kinder die Nachricht von ihrem Tod.

Sie konnten sich nicht erklären, warum jemand die Wohnung der alten Frau durchwühlt hatte. Denn es fehlte nichts.