Ruhe sanft!

Frau Braun ging zum Fenster und öffnete es. Gerade verließ ihre Nachbarin das Haus und hastete die Straße entlang.

Frau Braun beugte sich vor und rief: „Guten Tag Frau Weber, wollen Sie einen Spaziergang machen?“

Die kleine, weißhaarige Frau antwortete ernsthaft: „Nein, ich besuche meinen Mann Bruno, wie jeden Tag.“

Frau Braun drehte sich zu ihrem Mann um, der wie so oft die Zeitung studierte. „Stell' dir vor, diese Frau Weber geht jeden Tag zum Friedhof. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so an ihrem Mann hängt. Dabei behandelte sie dieser Kerl wirklich schäbig.“

Charlotte Weber war etwas außer Atem, als sie am Friedhof ankam. Zielstrebig ging sie eine breite Allee entlang und danach einen schmalen Weg zwischen zwei Grabreihen. Diesem folgte sie, bis eine große Hecke ihn versperrte. Hier lag Bruno. Dieser schöne Platz musste ihm einfach gefallen.

Der große Grabstein stand trutzig am Kopfende. Der Steinmetz hatte in schönen Buchstaben seinen Namen Bruno Weber hinein gemeißelt, den Geburts- und den Sterbetag. Der freie Raum darunter wartete auf ihren eigenen Namen. Ganz unten las man: Ruhe sanft.

Um den Stein wucherten Lupinen und Margeriten und erzählten von dem schönen Sommertag.

Am Fußende befand sich eine kleine Bank, gerade groß genug für Charlotte. Hierhin setzte sie sich, wenn sie die Blumen gegossen und das Unkraut gezupft hatte.

Dann begann sie ihrem Bruno ausführlich zu berichten, was ihr seit dem letzten Besuch widerfahren war. So erfuhr er von dem entflogenen Vogel der Nachbarin und den vergeblichen Bemühungen der Feuerwehr ihn einzufangen. Sie klagte über die ständig steigenden Preise im Supermarkt. Und wenn sie gut 'drauf war, erzählte sie ihm auch noch den Inhalt des letzten Fernsehspiels.

Jedes Mal erhob sie sich nach einer gewissen Zeit mit den gleichen Worten. „Siehst du, Bruno, da liegst du nun und musst dir anhören, was ich zu sagen habe."

Dann ging sie zufrieden nach Hause.

Das war früher nämlich nicht so gewesen. Wenn Bruno von der Arbeit nach Hause kam, wollte er nur sein Essen und seine Ruhe. Er versäumte keine Sportsendung im Fernsehen und las wirklich jeden Artikel in seiner Zeitung. Mit ihrem Hausfrauenkram sollte sie ihn gefälligst in Ruhe lassen. Er hörte einfach nicht zu.

Ganz schlimm wurde es, als er in Rente ging. Nun saß er den ganzen Tag im Haus, langweilte sich und ärgerte Charlotte.

Vielleicht bekam er es deshalb mit dem Herzen? Der Arzt meinte, es sei nicht schlimm, ihm fehle nur eine Aufgabe.

Doch Bruno wusste es besser und änderte sein Leben nicht.

Manchmal quälten ihn dann diese Herzanfälle, wo er so schwer Luft holen konnte. Der Arzt gab ihm Tabletten, die er nur bei so einem Anfall nehmen sollte. Dieses Nitroglyzerin wirkte fast augenblicklich. Und Bruno meinte, damit ließe sich gut leben.

Eines Tages, als Bruno vor dem Fernseher saß, untersuchte Charlotte eine dieser Pillen am Küchentisch näher. Die Gelatinekapsel ließ sich öffnen, ein winziger Tropfen, ähnlich wie Öl, lag jetzt auf der Tischplatte. Charlotte sah ihn ängstlich an. So etwas konnte doch explodieren! Sie wischte ihn mit einem Lappen fort und warf alles in den Mülleimer.

Schade, nun hatte sie eine von den schönen Pillen verdorben.

Sie holte also das Speiseöl und praktizierte einen Tropfen in die Kapsel. Schon sah sie wieder aus wie vorher. Sie unterschied sich nicht von den anderen Kapseln.

Bei dem nächsten Anfall gab sie Bruno die Pille mit dem Speiseöl. Sie half natürlich überhaupt nicht. Charlotte passte genau auf. Der Anfall wurde so schlimm, dass Charlotte ins Nebenzimmer gehen musste, weil sie es nicht mit ansehen konnte.

Als sie wieder nach Bruno sah, röchelte er und seine Glieder zuckten. Sie legte ihm die Hand auf die Stirn und sagte: „Hab' keine Angst. Ich rufe sofort den Arzt.“

Das tat sie auch. Doch bevor er kam, ließ sie noch eine andere Pille neben das Bett fallen.

Der Arzt sagte, es wäre sehr ernst und rief den Krankenwagen. Als man Bruno fortgebracht hatte, entdeckte er die Kapsel am Boden. „Sehen Sie nur, er hat sie fallen lassen. Darum wurde der Anfall so schlimm.“

Charlotte starrte ihn erschrocken an. „Ich habe sie ihm gegeben, bestimmt. Ich sah doch, wie er das Wasser trank.“

Der Arzt beruhigte die weinende Frau: „Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. Es ist nicht Ihre Schuld. So etwas kann passieren. - Ich weiß ja, wie rührend Sie sich um Ihren Mann kümmern. Ich werde die Kapsel in meinem Bericht nicht erwähnen.“

Bruno starb in der Nacht.

Charlotte kaufte sich ein schickes schwarzes Kostüm und arrangierte eine schöne Trauerfeier.

Onkel Paul hielt eine fantastische Rede. Wie schnell der Tod manchmal an die Tür klopfte. Und dass sie alle bereit sein müssten, ihn hereinzulassen.

Die Frauen schluchzten und die Männer genehmigten sich noch ein Bier.

Es war wirklich eine schöne Feier. Die Gäste gingen richtig aufgekratzt nach Hause.

Seitdem ging Charlotte jeden Tag nach dem Mittagessen zu Bruno auf den Friedhof. Es mochte noch so schlechtes Wetter sein. Nichts konnte sie davon abhalten. Sie setzte sich auf die kleine Bank und erzählte ihm, was ihr einfiel. Bis ihr der Stoff ausging.

Nur eines erzählte sie Bruno nie: Die Fußballergebnisse.

Aktualisiert ( Freitag, den 01. Oktober 2010 um 13:55 Uhr )